Auf den ersten Blick ist Afghanistan vor allem eines – sandig.
Unter der gleißenden Sonne, die die heiße Luft flimmern und den Horizont verschwimmen lässt, erstreckt sich eine staubige und, abgesehen von ein ziemlich flachen Hügeln, fast ebene Wüstenlandschaft. Außer vertrocknetem Gestrüpp gibt es keine Spuren irgendeiner Vegetation, und auch für menschliches oder tierisches Leben sind nirgendwo Anzeichen zu entdecken.
Umso unwirklicher wirkt das einsame, von einer hohen Mauer umgebene Haus, das nach etwa einer Stunde Fahrt neben der Straße auftaucht. Die das eingeschossige Gebäudes umgebende, lehmverputzte Mauer und dessen Wände haben den gleichen hell sandfarbenen Farbton wie der größte Teil der kargen Einöde um uns herum.
Neben dem massiven Holztor steht an der Mauer: „BEST QUIET HOTEL”.
Zur allgemeinen Überraschung fährt Rolf den 608 neben das Eingangstor und macht den Motor aus. Er will doch nicht etwa hier bleiben – mitten in der Wüste, noch nicht einmal hundert Kilometer hinter der Grenze? Hatte er nicht gesagt, unser heutiges Ziel sei ein Hotel in Herat?
Als unser Fahrer aus dem Bus springt und ich nach meiner Umhängetasche greife, um ihm, zusammen mit den Anderen, zu folgen, öffnet sich das schwere Holztor in der Mauer.
Eine Gestalt tritt heraus, die aussieht, als wäre sie aus einem der orientalisch inspirierten Märchenbücher meiner Kindheit (wie „Tausendundeine Nacht” oder Wilhelm Hauffs „Karawane”) herausspaziert…
‘Der kleine Muck!’ denke ich, denn der Afghane, dessen Alter schwer zu schätzen ist – er könnte Ende Vierzig, aber auch Ende Sechzig oder sogar noch älter sein –, entspricht hundertprozentig dem Bild, das ich mir von dieser Figur aus Hauffs bekanntem Märchen immer gemacht habe. Er ist kleinwüchsig, vielleicht einen Meter und zwanzig groß, und trägt einen gigantischen Turban, der seinen (mit einem langen Hemd, weiten Pumphosen und viel zu großen, braunen Schuhen bekleideten) Körper noch zierlicher wirken lässt.
„Hey, Baba, nice to see you again,” begrüßt Rolf den Hausherrn des Wüsten-Hotels.
„Ruuulf, old friend, I am very glad to see you,” antwortet dieser, und die beiden beginnen radebrechend über den bisherigen Verlauf unserer Reise zu parlieren.
„And, Baba, do you have tschai and charas for us?” fragt Rolf schließlich.
„Oh yes, very good, very fresh afghan charas!” antwortet der Afghane.
So langsam dämmert es uns, dass sich das „BEST” und „QUIET” nicht auf Übernachtungen bezieht…
Unser Gastgeber lädt uns mit einer schwungvollen Handbewegung ein, ihm in den Hof des „Hotels” zu folgen.
Dann fällt sein Blick auf mich, und er steuert mit strahlendem Lächeln auf mich zu, ergreift meine Hand und geht mit mir zusammen voran.
„Mensch, Paula, du scheinst ja eine enorme Wirkung auf die afghanische Männerwelt zu haben,” lacht Rolf.
Ich zucke die Achseln, denn mir ist schleierhaft, womit ich diese besondere Aufmerksamkeit auf mich gezogen habe. Schließlich habe ich, ebenso wie die anderen Buspassagiere, bloß mit leicht verblüfftem Gesichtsausdruck herumgestanden.
Der Afghane führt uns über einen kleinen Hof ins Haus hinein.
Es geht einen schmalen Korridor entlang, einmal rechts um die Ecke, und dann betreten wir einen mit Teppichen ausgelegten Raum.
In der Mitte steht eine Habel Babel (oder auch „Hobble Bobble” – wegen des blubbernden Geräuschs beim Rauchen…) von beeindruckenden Ausmaßen, und um sie herum bilden große, mit Kelimstoff bezogene Kissen, niedrige Bänke, Tischchen und Tabletts ein Oval.
Ich werde zu einem Sitzkissen am oberen Ende des Ovals geleitet, und erst, als ich mich dort niederlasse, lässt der kleine Mann meine Hand los, um auch den Anderen Sitzplätze zuzuweisen.
Rolf muss am anderen Ende der Runde Platz nehmen, eingerahmt von Catherine und Ulli. Den anderen vier Frauen bedeutet unser Gastgeber mit einer lässigen Geste, sie könnten sich einen Platz aussuchen. Dann verschwindet er und kehrt ungefähr fünf Minuten später mit einem Tablett zurück, auf dem dickwandige, große Gläser stehen, gefüllt mit goldfarbenem, dampfenden Tee.
Er scheint tatsächlich einen Narren an mir gefressen zu haben, denn er stellt das Tablett zwischen Rolf und Ulli ab und bringt zunächst mir ein Glas. Dann zwinkert er mir zu, zaubert aus einer Tasche seines Gewands einen in klebrige, bunte Folie gewickelten Bonbon hervor und überreicht ihn mir mit einem freundlichen Lächeln.
Ich lächle zurück und lege die Süßigkeit neben mein Teeglas auf das Tablett.
„Try it, it is nice, very sweet – try!” fordert er mich auf.
Urgs.
Irgendwie macht der Bonbon auf mich einen ziemlich „benutzten” Eindruck. Er sieht aus, als wäre er schon einmal ausgepackt, probiert und dann wieder in die Folie eingerollt worden… Ich möchte wirklich nicht unhöflich erscheinen, aber das Ding essen will ich definitiv auch nicht. Dann kommt mir die rettende Idee:
„Oh, I am so very thursty – I will drink Tschai first, o.k.?”
Unser Gastgeber nickt verständnisvoll, steht wieder auf und beginnt, auch den anderen Gästen Teegläser zu reichen. Eine Süßigkeit dazu bekommt allerdings niemand außer mir.
Als der kleine Muck mit den leeren Tablett hinauseilt, lasse ich den Bonbon schnell in meiner Tasche verschwinden und nehme einen großen Schluck Tee.
Der Tschai ist heiß, stark und so stark gesüßt, dass man auf die Beigabe von Zuckerzeug ohnehin gut verzichten kann. Neben dem kräftigen, leicht säuerlichen Aroma – ich tippe auf einen Ceylon – schmecke ich Gewürze heraus, Kardamom und irgendetwas dezent Scharfes, vielleicht Ingwer, vielleicht auch Pfeffer…
Als der Hausherr wieder hereinkommt, bringt er „Charas” mit, ein kastaniengroßes, glänzendes Stück Haschisch, tiefdunkelbraun, fast schwarz, mit rötlichem Schimmer – „frische Ernte”, wie unser Fahrer fachmännisch konstatiert.
Der Charasi bröselt eine ordentliche Menge der weichen Masse in die Rauchschale der Wasserpfeife. Dann entzündet er einen langen Holzspan, nimmt mit einer Zange ein Stück Holzkohle vom Messingtablett und hält den brennenden Span an die Kohle.
Er pustet sanft, und als die Kohle zu glimmen beginnt, legt er sie auf das Haschisch-Häufchen – und reicht dann das am Ende eines einzelnen Schlauchs angebrachte Mundstück mit einer auffordernden Geste zu mir herüber. Ich soll das Ding anrauchen.
Ist das nun eine besondere Ehre, oder ist er vielleicht der Meinung, ich sollte mich lieber auf Tee und Bonbons beschränken – und will mich auf den Arm nehmen?
Es wäre ja nicht das erste Mal, dass man mich für jünger hält, als ich bin. In einer Hamburger Studentenkneipe musste ich schon mal meinen Ausweis zücken, um ein Bier zu kriegen.
Egal, ich tu so, als wäre das alles hier nichts Neues für mich (tatsächlich habe ich noch nie im Leben Wasserpfeife geraucht), und ziehe kräftig. Der Rauch ist angenehm kühl, schmeckt aber eigentlich nach nichts, nur ein bisschen nach Kohle.
Muss ich den Schlauch jetzt weitergeben, oder kann ich es ein zweites Mal versuchen?
Ich blicke zu dem Afghanen, und der nickt mir breit grinsend zu.
Also ziehe ich noch einmal. Wieder nur ein leichtes Kohle-Aroma, kein Haschischgeschmack. Auch spüre ich keinerlei Wirkung.
Achselzuckend reiche ich den Schlauch weiter.
Während das Mundstück die Runde macht – darüber, ob es jemals gereinigt oder gar ausgewechselt wird, möchte ich mir jetzt wirklich keine Gedanken machen – füllt stark und süßlich duftender Rauch den Raum.
Sogar Agnes nimmt einen Zug (und hustet erbärmlich), nur Rosi lässt den Schlauch an sich vorüber gehen und begnügt sich mit ihrem Tee.
Langsam habe ich das Gefühl, von meinem neuen Freund veräppelt worden zu sein – anscheinend hat er mich nur die Kohle heiß rauchen lassen, und das Haschisch qualmen jetzt die Anderen weg.
Als der Schlauch wieder bei mir angekommen ist, nehme ich deshalb einen besonders tiefen Zug. Ich atme den aromatischen Rauch langsam durch die Nase aus und inhaliere gleich noch einmal, bevor ich das Teil wieder weitergebe.
Das war’s dann.
Die Wirkung dieser zwei Züge ist wahrhaftig nicht mit der jener paar Joints zu vergleichen, an denen ich auf Partys oder auf den Parkplätzen vor irgendwelchen Discos schon mal gezogen habe. Auch das indische Zeug, das ich am Tag unserer Abfahrt probiert habe, war relativ harmlos, verglichen mit dem hier…
Ich sitze kerzengrade auf dem Kissen und bin ganz sicher, dass ich in den nächsten Stunden – oder vielleicht auch Tagen – nicht imstande sein werde, mich zu bewegen oder gar aufzustehen. In meinem Kopf gibt es keinen einzigen vernünftigen Gedanke mehr.
Stattdessen bin ich überwältigt von einer Flut ungeheuer intensiver Sinneseindrücke, die mein Bewusstsein überschwemmen und bis in den letzten Winkel ausfüllen.
Mein auch im Normalzustand recht gut entwickelter Geruchssinn scheint um das zigfache geschärft. Ich rieche nicht nur den würzigen Haschischduft und den Rauch der Holzkohle, sondern auch den staubigen Muff der Teppiche und Kissen – und, so kommt es mir jedenfalls vor, jeden einzelnen Schweißtropfen auf meiner Haut und der sämtlicher Anwesenden.
Ich höre, wie sie sich unterhalten, höre Rolf mit dem Hausherrn scherzen und lachen, aber wie am Morgen verstehe ich kein Wort. Nur ist das diesmal nicht unangenehm oder beängstigend, im Gegenteil, das Sprachgewirr und die übrigen Geräusche im Raum verschmelzen zu einer wunderschönen, rauschenden Klangsymphonie.
Und erst die Farben und Formen – die Muster der Teppiche, ihre warmen Rot- und Orange-Töne, der Glanz der Messing-Tabletts oder die Lichtreflexe im dunkelgrünen Glas der Wasserpfeife! Wie herrlich allein der dunkel goldene Tee in meinem Glas schimmert!
„Paula, du solltest mal einen Schluck Tee trinken, damit dein Kreislauf nicht wieder schlapp macht!” Anna hat sich zu mir herüber gebeugt und hält mir mein noch halb gefülltes Glas hin.
Einen Moment lang starre ich sie nur verblüfft an.
Wie kriegt sie das bloß hin, so ganz normal zu reden – sie hat doch auch an der Zauberpfeife gezogen, sogar mehrmals, ich hab’s genau gesehen… ?
Und wie soll ich ihr klar machen, dass ich mich nicht rühren kann, wenn ich doch nicht einmal weiß, wie ich einen verständlichen Satz formulieren und aussprechen soll?
Doch mein Körper hat anscheinend bereits kapiert, dass er vorübergehend ohne „Befehlszentrale Gehirn” zurechtkommen muss.
Mein rechter Arm hebt sich wie von selbst, die Hand greift nach dem Glas, und im nächsten Moment läuft die warme, süße Flüssigkeit meine Speiseröhre hinab.
Das ist kein Tee, das muss der Nektar der Götter sein!
Ganz sicher habe ich noch niemals im Leben etwas so Köstliches getrunken… Mir ist, als könne ich die belebende Wirkung des Trankes in jeder einzelnen Körperzelle spüren.
Zeit vergeht, aber ich weiß nicht, wie viel.
Stunden? Tage? Jahre? Ich könnte die Hauptfigur eines dieser Märchen sein, in denen Jemand ins Reich der Feen gerät und dort einen Tag oder eine Woche verbringt – und als er in die Welt der Menschen zurückkehrt, muss er feststellen, dass dort Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte vergangen sind…
Aber ich mache mir keine Sorgen. Eigentlich denke ich überhaupt nicht; ich höre, sehe, rieche, schmecke und fühle nur noch.
Ich mache mir keine Sorgen… bis zu dem Moment, in dem Rolf und Catherine anfangen, sich höflich von unserem Gastgeber zu verabschieden.
Da springt mich die Panik an wie ein wildes Tier.
Die wollen jetzt losfahren, weiter nach Herat!
Ob sie mich wohl zum Bus tragen, wenn sie merken, dass ich nicht mehr fähig bin zu gehen? Aber wie soll ich ihnen das nur klarmachen, wenn ich keinen verständlichen Satz über die Lippen bringe?
Vielleicht merken sie es gar nicht, wenn ich hier sitzen bleibe; schließlich zählt Rolf seine Passagiere nicht nach jedem Zwischenstopp durch, so wie ein Lehrer seine Schützlinge auf einer Klassenfahrt! Um Himmels Willen, wenn ich hier zurück bleibe – zugedröhnt und hilflos, wie ich bin –, dann lande ich womöglich wirklich im Warenbestand orientalischer Mädchenhändler, wie meine Mama es befürchtet hat…
Das Augenzwinkern und das Grinsen des „kleinen Mucks” wirken auf mich plötzlich ganz und gar nicht mehr drollig, sondern verschlagen und bedrohlich.
Und nun ist es soweit.
Rolf und Catherine erheben sich, und auch die Anderen suchen ihre Sachen zusammen und stehen von den Sitzkissen auf.
Ein heißer Schauer läuft mir über den Rücken, und dann – dem Himmel sei Dank – agiert mein Körper ein weiteres Mal, ohne dass ich ihm (bewusst) einen Befehl dazu erteilt habe. Meine rechte Hand ergreift meine Tasche, und ich stehe auf – auch wenn mir völlig unklar ist, wie und warum ich das mache. Offenbar brauche ich nur etwas zu wollen, und meine Gliedmaßen erledigen es dann schon. Klasse!
Ich „denke” mich also einfach hinter Rolf und den Anderen hinterher, und tatsächlich setzt sich mein Körper in Bewegung und folgt ihnen hinaus, den Flur hinunter, in den Hof und dann ins Freie.
In den Stunden (?), die wir in der Tee- und Rauchstube verbracht haben, ist die Welt hier draußen eine andere geworden. Oder vielleicht sehe ich sie auch nur mit ganz anderen Augen…
Das Licht hat sich mit Sicherheit tatsächlich verändert, ist wärmer und weniger grell, denn die Sonne steht jetzt viel tiefer.
Die sanften Hügel der kargen Landschaft werfen violettfarbene Schatten, und die vorhin so farblose, öde Gegend hat sich in ein aufregende Komposition aus Gelb‑, Ocker- und Orangetönen verwandelt, die an ein expressionistisches Gemälde erinnert.
Ich kann mich gar nicht satt sehen an dieser aus glühenden Farbverläufen bestehenden Landschaft. Im Bus klettere ich hinten auf die Matratze und blicke gebannt aus dem Fenster, während Rolf den 608 auf die Straße zurück steuert und in Richtung Herat fährt.
Es dämmert schon, als wir die Stadt erreichen.
Der Bus hält auf dem Hof eines von einem erstaunlich grünen – in Anbetracht der Trockenheit, die hier momentan überall zu herrschen scheint – Garten umgebenen Hotels.
„Ich werd’ mich mal um ein Zimmer für uns kümmern,” sagt Inge zu mir, als wir aussteigen, und ich lächle sie dankbar an.
Die Fähigkeit zu sprechen (und dann auch noch englisch!) habe ich nämlich immer noch nicht wieder erlangt. Würde sie die Verhandlungen mit dem Hotel-Manager nicht übernehmen, müsste ich wohl auf dem schönen grünen Rasen hier übernachten, auf dem ich mich jetzt erst einmal hinsetze.
Ich bin nach wie vor etwas wackelig auf den Beinen – seit meinem Beinahe-Kreislaufkollaps an der Grenze. Und jetzt auch noch dieser schwarze Afghane, der meinen Verstand platt gemacht hat wie eine Dampfwalze!
Es erscheint mir dringend notwendig, wieder „zu mir zu kommen”, und so sitze ich einfach nur ganz still da und mache mich daran, meinen Körper und Geist einer gründlichen Inspektion zu unterziehen.
Inge kommt noch einmal heraus, um mir zu sagen, wie ich unser Zimmer finde. Und dass sie meinen Schlafsack schon dorthin gebracht habe.
„Ich danke dir,” sage ich und strahle sie an. Wow – ich kann wieder reden!
Zwei oder drei Stunden lang bleibe ich noch dort auf dem Rasen sitzen, an diesem lauen Abend des 31. August.
Irgendwann taucht eine junge, dünne Katze auf. Sie umkreist mich und lässt sich dann in sicherer Entfernung nieder, um mich zu beobachten. Nach einer Weile scheint sie mich als nicht gefährlich eingestuft zu haben und kommt sie zu mir herüber.
Mit jenem leicht dämlichen Gesichtsausdruck, den Katzen haben, wenn sie flehmen, untersucht sie den von mir ausgehenden Geruch – und kommt offenbar zu einem für sie zufriedenstellendem Ergebnis, denn nun klettert sie ohne Scheu auf meinen Schoß, rollt sich zusammen und beginnt so laut zu schnurren, dass ihr ganzer kleiner Körper vibriert.
Vorsichtig ziehe ich meine Jacke, die Inge neben mir liegen gelassen hat, heran und decke das magere Kätzchen damit zu.
Das Schnurren wird noch lauter.
Später, als es nach Anbruch der Dunkelheit kühler wird, hebe ich vorsichtig ein selig schlummerndes Kätzchen von meinem Schoß auf den Rasen.
Meine Jacke lasse ich ihm da.