Viele Jahre sind vergangen seit der Reise, von der der folgende Bericht handelt. Weil diese Reise für mich immer noch bemerkenswert ist, habe ich mir die Mühe gemacht, die Blätter des Reisetagebuches in die richtige Reihenfolge zu bringen und abzuschreiben. Was ich bemerkenswert finde? Zunächst einmal, dass wir es überhaupt gewagt haben: Sechs Leute, die sich nur wenig kennen und so verschieden wie nur möglich sind, verbünden sich freiwillig zu einem Wagnis, das sie zwingt, auf einer Fläche, so klein ist wie der Innenraum eines VW-Busses und so groß wie Europa, zwei Monate lang miteinander auszukommen, fast ständig unterwegs, ohne festes Ziel, nur mit einer vagen Vorstellung von der Route. Zweitens, dass wir es diese Zeit auch wirklich miteinander ausgehalten haben, natürlich nicht ohne Verstimmungen, wechselnden Allianzen, und das eine oder andere Mal auch mit einer Portion Überdruss aneinander, aber zu guter Letzt sind wir eben zusammen zurückgekommen, und nicht einzeln.
Und schließlich der unglaubliche Reichtum an Eindrücken, das kulturelle Wechselbad, das während der Fahrt langsam zum Alltag und damit kaum noch wahrgenommen wird. Das Fremde wird normal, ebenso wie das Nichtstun, das Bestimmtsein durch die „Nahrungssuche“ und „Sicherung des Schlafplatzes“. Geographische Konstanten wie „Das Meer“, „Das Gebirge“, Norden, Süden werden zu Orientierungspunkten wie U‑Bahnhöfe, Straßen, Plätze und Brücken.
Diese Erfahrung ist es, die – wenn man sie machen will – mehr erfordert als zehn Tage Halbpension inklusive Hin- und Rückflug. Das hier zur Einstimmung Gesagte muss man freilich im Hinterkopf behalten, denn das unser Reisetagebuch ist bis zur Naivität subjektiv und enthält nichts, was über den Urlaubstag hinausweist. Weder meine Schwester Ariane, die den bereits vor einigen Jahren die meiste editorische Vorarbeit geleistet hat, und der ich dafür hier ganz herzlich danke, noch ich, haben dem etwas hinzugefügt. Einige stilistische Glättungen sind das Äußerste, das wir uns an Veränderungen zugestanden haben. Der Leser muss also – wenn er damals nicht selbst mit von der Partie war – ein bestimmtes Gespür entwickeln für die Schwingungen in der etwas „spanfallenden“ Prosa dieses Reiseberichts.
Vor all diesen Jahren jedenfalls blühte der Handel mit den arabischen Staaten auf, weil dort viel Geld war. Und die Waren kamen nicht per Kamel oder Schiff, nö, es bildete sich eine endlose Karawane von LKWs, die von England, Frankreich, Schweiz, Skandinavien und Deutschland aus starteten und über Jugoslawien und Bulgarien oder über Griechenland die Türkei erreichten. Londra Camp an der Einfallstraße nach Istanbul: die letzte Station in der Zivilisation. Wenn du auf der anderen Seite vom Bosporus bist, beginnt Asien.
Zwischen den LKW und dem lokalen Verkehr Gastarbeiter, die sich (und ihren Familien) unglaubliche Strapazen aufluden, um einmal im Jahr nach Hause zu kommen, bepackt mit Geschenken für die Verwandten und auf dem Rückweg mit Dingen, die sie aus der Heimat mitnehmen mussten. Und dazwischen durchgeknallte Touristen wie wir.
Das Abenteuer beginnt auf dem Autoput.
Berlin-Charlottenburg, den 8. Juli 1988
Stefan Soyka