23. September
Das nächste Mal wecken mich Sonnenstrahlen, die durch die staubigen Scheiben des 608 fallen. Obwohl es inzwischen taghell ist, rollt unser Bus nur im Schritt-Tempo, und jetzt hält er ganz an. Als ich mich ächzend von der Sitzbank, auf der ich geschlafen habe, erhebe, sehe ich, warum – der Verkehr staut sich vor einer Brücke.
Heute morgen wollen neben Fahrzeugen aller Art offenbar auch große Teile der hiesigen Bevölkerung diesen Fluss – als Fußgänger – überqueren.
Als Rolf sich vorn umdreht, um nach seinen erwachenden Passagieren zu sehen, bemerkt er, dass ich den Stau knipse. Er bittet er mich, die Kamera wieder wegzulegen:
„Aus irgendeinem Grund gelten Brücken als Militäreinrichtungen und dürfen nicht fotografiert werden;” erklärt er, „warum, wissen die indischen Beamten wohl selbst nicht, aber das hält sie nicht davon ab, einen Haufen Ärger zu machen und ‘ne schöne Stange Geld zu kassieren, wenn ihnen grad danach ist…”
Glücklicherweise scheint der Uniformierte am Straßenrand momentan andere Dinge um die Ohren zu haben, so dass er sich mit einem strafenden Blick in meine Richtung begnügt.
Hinter der Brücke entspannt sich die Verkehrssituation wieder ein bisschen und unser Bus kommt etwas zügiger voran. Bei einem Restaurant legen wir einen Stopp ein, und gegen Mittag überqueren wir bei Kanpur den Ganges, den großen, heiligen Fluss der Hindus. Diesmal packe ich meine „Agfa Optima” in die Tasche zurück, bevor wir in Sichtweite der Brücke sind.
Die Fahrt durch die Ganges-Tiefebene, über Lucknow und Gorakhpur, empfinde ich als reichlich eintönig. Irgendwie sieht hier alles gleich aus, eine Ortschaft reiht sich an die nächste, und da es weder landschaftliche noch architektonische Motive zu geben scheint, bin ich schon froh, wenn ich einen Sadhu, einen „heiligen Mann” mit leuchtend rotem Lungi (einem um die Hüfte gewickelten Tuch), langen Zottelhaaren und Shiva-Dreizack („Trishul”) vor die Kameralinse kriege.
Am späten Abend erreichen wir den Grenzort Sonauli. Ich bin entzückt: Nepal, das Land meiner Träume, hat ein richtiges, hübsch verziertes Eingangstor!
Die Grenzformalitäten sind sowohl auf der indischen wie auch auf der nepalesischen Seite erfreulich schnell erledigt, und Rolf, dem seine Erschöpfung – nach gut dreißig Stunden am Steuer – mittlerweile überdeutlich anzusehen ist, fährt nur noch ein kurzes Stück weiter, bis zu einem hinter einem Bus-Halteplatz gelegenem Hotel.
Das Hotel sieht von außen recht schäbig aus, aber als wir eintreten, sind wir angenehm überrascht. Die Räume sind sauber, in freundlichen Ockertönen gestrichen und mit hübschen Möbeln aus dunklem Holz eingerichtet. An der Rezeption und am kleinen Hotel-Restaurant vorbei kann man in einen von einer hohen Mauer umgebenen Garten gehen.
Dort auf der Terrasse treffen wir uns mit Ulli und Catherine, nachdem wir unsere Sachen auf unsere Zimmer gebracht haben. Unser Fahrer schläft bereits, und auch Rosi und Agnes sind in ihrem Raum verschwunden.
Wir lassen uns eine Kleinigkeit zu essen und Tee bringen, und während der Straßenlärm hinter der Mauer langsam abklingt, genießen wir es, endlich nicht mehr im 608 zu sitzen.
„Hier in der Nähe wurde Prinz Siddhartha Gautama, der spätere Buddha, geboren,” sagt Ulli, „in Lumbini.”
Doch unsere leise geführte Unterhaltung verstummt nach und nach, auch wir merken, dass wir hundemüde sind. Ich verzichte sogar aufs Duschen, als Inge und ich wieder oben in unserem gemütlichen Zimmerchen sind. Vielleicht kann ich den Staub und Schweiß der langen Fahrt ja morgen früh noch abspülen…