15. August
Mein Vater hat mich mitsamt Schlafsack und Koffer zum verabredeten Treffpunkt in Bahrenfeld gefahren.
Ja, ich habe einen Koffer dabei – und damit Rolfs Rat beherzigt: „Zurück werdet ihr ja vermutlich fliegen, und bei den Flügen aus Indien oder Nepal winkt der Zoll grundsätzlich die langhaarigen Rucksack-Touristen raus. Wenn ihr also nicht stundenlang gefilzt werden wollt, habt besser einen Koffer dabei. Und nehmt einen richtig stabilen, den man abschließen kann – und auf dem man bequem sitzt, wenn man mal irgendwo warten muss …”
Paps kann sich gar nicht von dem Bus losreißen.
Immer wieder klettert er in den 608 hinein und wieder heraus, befragt unseren Fahrer zu den technischen Details des Fahrzeugs und lässt sich die geplante Route beschreiben. Glücklicherweise erklärt Rolf ihm alles ganz geduldig und macht dabei offenbar einen so souveränen und kompetenten Eindruck, dass mein alter Herr ihm schließlich mit bebender Stimme versichert, er sei nun ganz beruhigt, dass sein „Töchting auf dieser Weltreise in guten Händen” sei.
Ein bisschen peinlich ist mir das schon, aber irgendwie finde ich seine Aufregung auch ganz süß. Umso leichter fällt es mir, einigermaßen cool zu wirken. Wenigstens hat Paps nicht so entsetzt auf meine Reisepläne reagiert wie Mama, die ihre Hände über dem Kopf zusammen geschlagen hat, mich bereits als ein Opfer von Mädchenhändlern und / oder Giftschlangen sieht und überhaupt nicht begreifen kann, warum ich das Geld aus dem Sparvertrag nicht eine hübsche Schrankwand oder etwas ähnlich „Vernünftiges” investiere.
Mein Vater hingegen, glaube ich, würde am liebsten mit nach Nepal fahren.
Nach und nach trudeln die übrigen Mitreisenden ein.
Abgesehen von Inge, die von ihrem Freund gebracht wird, kommen sie alle, mehr oder weniger schwer beladen, zu Fuß von der nächsten Bushaltestelle. Als sämtliche Gepäckstücke verstaut sind, ruft Rolf: „Alles einsteigen, bitte!”. An meinen Vater gewandt, fügt er grinsend hinzu: „Letzte Chance – noch können Sie mit ….”
Einen Moment lang stockt mir der Atem. Papa wird doch nicht …?
Aber nein, so spontan ist er nicht. Eine letzte Umarmung, Küsschen, und dann sitze ich im Bus und wir winken einander zu wie wild, während Rolf den Motor anlässt. Statt auf die Autobahn fahren wir allerdings nur ein kurzes Stück auf dem Osdorfer Weg und der Osdorfer Landstraße – bis nach Flottbeck, wo Rolf den Bus vor einem leicht ramponiert wirkendem Häuschen in einem dschungelartig zugewucherten Garten parkt.
Hannes und Steffen, erklärt unser Fahrer, seien grad gestern aus Asien zurückgekommen, und da müsse man ja unbedingt noch „ne Runde schnacken”. Wir trotten also hinter Rolf und Catherine her ins Haus, wo im Wohnzimmer schon mehrere Leute herumsitzen und gebannt den Berichten der zwei Rückkehrer lauschen.
Es gibt Tee, Kekse und Dope – das die Beiden vermutlich mitgebracht haben –, und als man Rolf den Joint reicht und er genüsslich inhaliert, sehe ich Agathes Augen nervös zucken. „Und der will heute noch autofahren …” flüstert sie Rosi aufgeregt zu, aber die meint nur ganz trocken: „Das will ich doch stark hoffen – ich hab nämlich wenig Lust, hier zu übernachten …”
Die Geschichten der beiden Heimkehrer sind durchaus interessant – sie waren zum Trecking in den Bergen Nepals und zuletzt auf den Malediven, wo sie anscheinend eine ganze Insel für sich allein hatten und so eine Art Robinson-Urlaub mit Kokosnuss- und Fisch-Diät gemacht haben – aber nach zwei, drei Stunden in dem verqualmten kleinen Raum werde ich langsam unruhig. Da Rolf sich offensichtlich bestens unterhält und keine Anstalten macht, aufzubrechen, beschließe ich, in den Garten zu gehen.
Im Flur kommt mir Anna entgegen. „Du willst auch, dass es endlich losgeht, nicht wahr?” lächelt sie. Ich nicke wortlos und lächle zurück. Erst als ich zur Tür hinaus geschwebt bin, merke ich, dass in dem Joint offenbar ein weit kräftigeres Zeug drin war als das, was ich normalerweise so angeboten kriege. Es ist später Nachmittag. Die tiefstehende Sonne taucht den schönen wilden Garten in ein warmes Licht, in dem die unzähligen Nuancen von Grün leuchten.
Obwohl keine fünf Kilometer vom Ausgangspunkt unserer Fahrt entfernt, ist es so, als sei ich schon ganz weit weg von der Welt, in der ich bis heute gelebt habe. Mit einem Mal fällt alle Spannung und Ungeduld von mir ab, und ich fühle mich ganz leicht. Es ist nicht mehr wichtig, wie lange es noch dauert, bis Rolf sich endlich losreißen kann: Irgendwann wird er schon losfahren. Und er wird den Bus bis nach Nepal fahren, und ich werde darin sitzen, wenn er über die Grenze rollt …
Als ich die Haustür öffnen will, um wieder hinein zu gehen, wird sie schwungvoll von innen aufgerissen. Rolf steht im Türrahmen; hinter ihm erkenne ich Catherine, Ulli und Inge.
„Na, Paula, was meinst du,” er lacht mich an, „wollen wir mal losfahren nach Nepal?”
Es wird schon dunkel, als wir Hamburg hinter uns lassen.
So spartanisch und rein zweckmäßig der Innenausbau des 608 auch ist – der am Ziel der Reise schließlich verkauft werden soll –, an der Musikanlage (Kassettenrecorder und fette Lautsprecher) hat Rolf nicht gespart. Während die Sonne in dramatischem Rot, Dunkelviolett und feurigem Orange versinkt, erklingt Steve Millers „Book of Dreams”:
„… you can be, what you want to, want to, want to …
… and it does not matter, who you are, if you wish upon a star …”
Spät in der Nacht krabbele ich hinten auf das Podest und lege mich zwischen Inge und die Matratzenkante, aber obwohl ich todmüde bin, finde ich keine Ruhe. Erst als es schon zu dämmern beginnt, falle ich in einen zwei oder drei Stunden kurzen, unruhigen Schlaf.