Als ich zurück im Hotel bin, stellt sich heraus, dass Inge die Aussicht auf eine original afghanische Mahlzeit keineswegs so reizvoll findet wie ich, und die Aussicht auf einen Spaziergang durchs nächtliche Herat schon gar nicht. Hinzu kommt, dass das kanadische Pärchen, das wir schon in Istanbul und in Mashad getroffen haben, heute angekommen ist, und meine Freundin wurde von ihnen zum vegetarischen Abendessen eingeladen.
„Um sieben ist es zwar noch nicht stockfinster – aber wenn ich zurückgehe, schon… Du kannst mich doch nicht mutterseelenallein in tiefster Nacht durch Herat laufen lassen!” protestiere ich.Und obschon ich versuche, es wie einen Scherz klingen zu lassen, ist mir wirklich nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Meine nächtliche Odyssee an unserem ersten Abend in Istanbul liegt noch nicht so lange zurück, dass ich ihre Schrecken vergessen hätte…
„Wenn du nicht hingehst, wäre das eine tödliche Beleidigung,” erklärt Catherine, als könne sie meine Gedanken lesen, „so eine Einladung nämlich eine Ehre, und die Gastfreundschaft der Afghanen ist wirklich legendär.”
„Außerdem”, fügt sie hinzu, „ist der Laden doch an der Hauptstraße, oder?”
Ich nicke.
„Du musst also gar nicht durch irgendwelche finstere Seitengassen laufen. Und so schrecklich dunkel ist wird auch nicht sein; es ist grad mal eine Woche her, dass wir Vollmond hatten.”
Als ich immer noch zaudere, verspricht Inge mir schließlich, später nachzukommen, sofern das Essen bei den Kanadiern nicht zu lange dauert.
Es ist tatsächlich noch ziemlich hell, als ich mich in der Dämmerung auf den Weg zu Mohammads Laden mache. Der von den Fastenden sicher sehnsüchtig erwartete Mond ist jedoch schon deutlich am klaren Abendhimmel zu sehen.
Auf den Straßen Herats, auf denen es während des heißen Tages eher gemächlich zuging, herrscht nun ein reges Treiben. Gruppen von phantomgleichen, unter wallenden Burkas verborgenen Frauen sind mit Körben, Schüsseln und Krügen unterwegs; dazwischen hasten Jungen über die Gehsteige, die Tabletts mit gefüllten Teegläsern zu ihrer durstigen Kundschaft tragen.
Mit einem solchen Tablett, auf dem er eine große Kanne, einen Zuckertopf und mehrere Gläser balanciert, läuft ein etwa neun- oder zehnjähriger Junge quer über die Straße und biegt direkt vor mir in die Seitenstraße ein, in der Hadji mit dem schönen Glaspokal seinen Laden hat. Ich sehe dem kleinen Tschai-Lieferanten hinterher, und wie der Zufall es will, steuert er geradewegs auf den Laden des Alten zu – und der steht davor, um das Tablett in Empfang zu nehmen.
Als er mich sieht, winkt er mir zu, ich solle zu ihm herüber kommen.
Ich zögere einen Moment, einerseits möchte ich nicht zu spät zu meiner Einladung zum Essen bei Mohammad erscheinen, andererseits aber auch dem hilfsbereiten alten Herrn gegenüber nicht unhöflich sein. Das wird Mohammad sicher verstehen, denke ich, und biege in die Gasse ein, in welcher der Hadji seinen Trödelladen hat.
Er bittet mich mit einer Handbewegung, einzutreten. Ich nehme auf dem Sitzkissen Platz, auf das er deutet, und er gießt grünen Tee in unsere Gläser, der heiß, sehr süß und mit viel Kardamom gewürzt ist.
Es entspinnt sich die wohl kurioseste Konversation, die ich jemals geführt habe, denn er spricht kein Englisch – und erst recht kein Deutsch – und ich nur sehr wenige Worte Farsi (Dari).
Mit fragendem Ausdruck und entsprechenden Gesten „erkundigt” sich der alte Mann, woher ich komme und wohin ich (wann) weiterreise, und ich „antworte” mit ebensoviel Mimik und Gestik – und einigen Worten (wie „Germany”, „Kandahar” oder „Kabul”) von denen ich annehme, dass er sie versteht.
Es scheint so, als sei das der Fall, denn er nickt beifällig.
Durch dieses Ergebnis ermutigt, versuche ich ihm auch klarzumachen, dass ich nun leider weiter muss, weil ich ein Stück weiter die Straße hinunter zum Essen eingeladen bin – ich zeige in die entsprechende Richtung, stopfe unsichtbare Speisen in meinen Mund und tu so, als wolle ich aufstehen. Wieder nickt er und lächelt, und als ich mich tatsächlich erhebe, steht auch er auf.
Da ich nicht weiß, wie man sich respektvoll verabschiedet, lege ich einfach die Handflächen vor der Brust wie zum Gebet aneinander, wie Rolf es uns für den indischen und nepalesische Gruß „Namaste” beigebracht hat, und deute eine leichte Verbeugung an.
Der alte Herr geleitet mich schmunzelnd zur Tür und greift im Vorbeigehen in ein Regal zu seiner Rechten. Als wir vor seinem Laden stehen, sehe ich, was er in der Hand hält: den türkisgrünen Glaspokal! Er überreicht ihn mir, und ich bin sprachlos.
Dann aber fällt mir glücklicherweise wieder ein, was Catherine über das in diesem Teil Afghanistan gesprochene Persisch (Farsi‑e Darbâri)gesagt hat – dass nämlich die persischen Eroberer der Antike in vielen Ländern Europas, vor allem in denen des Mittelmeerraumes, sprachliche Spuren hinterlassen und dass umgekehrt auch europäische Worte Eingang ins Farsi gefunden hätten. Manche Worte klängen griechisch, andere italienisch, und wieder andere verstünde jeder Franzose sofort …
„Mersi,” stoße ich hervor, glücklich, dieses wichtige Wort in seiner Sprache sagen zu können, „mersi, mersi!”
Er antwortet mit einer kleinen Ansprache und einer eleganten Geste, und obwohl ich kein Wort verstehe, zweifle ich nicht daran, dass er seine Freundlichkeit und Großzügigkeit gerade zur Selbstverständlichkeit erklärt hat.
Zuletzt sagt er: „Choda hafes!”
„Choda hafes,” sage auch ich und neige den Kopf.
Denn jetzt erinnere ich mich wieder: „Salam” (wörtlich: „Friede”) sagt man zur Begrüßung, „Choda hafes” (wörtlich: „Gott befohlen”) zum Abschied.
Bei Mohammad komme ich mit etwa einer Viertelstunde Verspätung an.
Obwohl er hungrig sein muss, hat er mit dem Essen auf mich gewartet und beteuert, das sei überhaupt kein Problem. Als ich ihm von der Einladung zum Tee im Laden des alten Herrn berichte und ihm das Glas zeige, freut er sich mit mir und bestätigt, dass dies ein wirklich schönes Stück ist – unabhängig davon, ob nun wirklich alt ist oder nicht.
Zum Essen bittet er mich in einen Raum hinter dem Laden, von dessen Existenz ich bisher noch nichts mitbekommen habe, denn die Durchgangstür ist hinter schweren Wandbehängen verborgen. Bevor wir hinübergehen, schließt er die Ladentür ab, und ich überlege kurz, ob mich das beunruhigen sollte.
„You just have to listen to your heart,” höre ich plötzlich Yussufs Stimme in meinem Kopf, „and you will know, if you can trust someone.”
Also lausche ich konzentriert in mich hinein, ob da irgendwo ein unbehagliches Gefühl seine Tentakel ausfährt oder eine Alarmglocke leise zu schrillen beginnt. Aber nein, alles bleibt ruhig.
Das Abendessen – das vermutlich ausgereicht hätte, um unsere gesamte Reisegruppe, immerhin acht Leute, satt zu bekommen – ist bereits auf einem schön gemusterten, von Sitzkissen umgebenen Tuch in der Mitte des Raumes arrangiert. Beim Anblick der Schalen und Schüsseln läuft mir das Wasser im Munde zusammen.
„It looks great!” versichere ich Mohammad.
„I hope, you’ll like the taste, too,” antwortet er.
Ich nicke nachdrücklich. Doch – den verlockenden Düften nach zu urteilen, die von den Köstlichkeiten aufsteigen, wird mir der Geschmack mit Sicherheit ebenfalls zusagen!
Wir lassen uns auf den Kissen nieder, und mein Gastgeber gibt zu den vor uns stehenden Speisen einige Erklärungen ab.
Sehr wichtig sei das „Naan”, das Fladenbrot, betont er, denn es sei nicht nur Beilage, sondern ersetze in Afghanistan auch den Löffel – für Soßen und Speisen mit sehr breiiger Konsistenz. Natürlich, fährt Mohammad fort, könne ich auch ein Besteck bekommen, wenn ich wollte…
Nein, nicht nötig, sage ich. Ich möchte gern mit den Händen essen, wie die Afghanen, und lasse mir von ihm zeigen, wie man ein Stück Naan zu einer Art Schaufel zusammenbiegt und damit beispielsweise Daal aufnimmt, ein weiches, lecker würziges Linsenmus.
Als nächstes probiere ich gebratene Auberginenscheiben in einer Joghurt-Soße und grüne Bohnen mit Knoblauch und Tomaten – zwei Vorspeisen, die mir von der türkischen Küche her vertraut sind und die auch ziemlich ähnlich schmecken.
Dann reicht mir Mohammad einen Bissen in einer goldbraun frittierten Teighülle. Ich beiße vorsichtig ab – und stelle fest, dass sich ein weichgekochtes, lecker gewürztes Kartoffelstück im Inneren befindet. „Pakora” heißen diese Häppchen, und es gibt sie auch mit Zwiebelringen unter der knusprigen Hülle.
Solche Pakoras (Gemüsestückchen in einer Teighülle auf der Basis von Kichererbsenmehl) gibt es auch in Pakistan und in Indien, erzählt Mohammad, „and maybe in Nepal, too – I don’t know.”.
„You must try the Quabeli!” drängt er. „It is a famous afghan meal, very delicious!”
Das von ihm angepriesene „berühmte” Gericht besteht aus Lammfleischstückchen, die einem auf der Zunge zergehen, in einer äußerst delikaten Soße. Dazu gibt es perfekt gegartem Reis, der durchsetzt ist von Gewürznelken und Kardamomkapseln, gestifteten Möhren, gehackten Mandeln, Pistazien – und Rosinen.
Die aromatischen Gewürze, die Nüsse und die zuckersüßen Rosinen im Reis passen nicht nur überraschend gut zu dem wunderbar zarten Fleisch, nein, sie unterstreichen dessen Geschmack auf eine unwiderstehliche Weise, die mir Laute des Entzückens entlockt.
„Mmmmm… you are right, this is absolutely delicious!” schwärme ich, und Mohammad strahlt.
Aus jeder Schale und jeder Schüssel muss ich probieren: von den Frikadellen aus Lammhack mit frischer Minze, einer Spezialität seiner Mutter, wie er mir stolz versichert, vom gemischten Salat – ebenfalls mit einer ordentlichen Portion gehackter Minze zubereitet – und von den gekochten grünen „Bamia” (Okras).
Das Einzige, was mir nicht so zusagt, sind die Okra-Schoten; ansonsten ist dieser Schmaus ein einziger Hochgenuss.
Aber so köstlich das Essen auch ist, nachdem ich alles durchprobiert und mir noch eine zweite Portion von dem köstlichen Quabeli einverleibt habe, bin ich so satt, das ich von den mit Pistazien verzierten Plätzchen, die Mohammad mir zuletzt kredenzt, nur noch einen einzigen herunter bringe – und auch den nur zusammen mit einem Glas Tee.
Mein Gastgeber tut gekränkt, gerade so, als hätte ich nur wie ein Spatz gegessen.
Obwohl ich wirklich von Allem gekostet und von Vielem reichlich genommen habe, besteht er darauf, dass ich bestimmt noch viel mehr essen würde, wenn es mir wirklich so gut schmecken würde wie ich behaupte.
Wenn ich noch mehr der Leckereien in mich hinein stopfe, werde ich platzen, versichere ich ihm. Und als ich beschreibe, wie ich höchstwahrscheinlich den Weg zum Hotel zurücklegen muss – rollend nämlich – muss Mohammad dann doch auch lachen und hört auf, beleidigt zu tun.
Er schenkt mir und sich Tee nach und schüttet dann etwas Tabak in eine kleine Schale.
Aus einer Dose nimmt er ein walnussgroßes Stück Charas, erwärmt es kurz mit einem Feuerzeug und beginnt, etwas davon über den Tabak zu bröseln.
„Oh no,” sage ich und wedele mit den Händen, „no charas for me, please!”
„Why not? You are in Afghanistan!”
Ich lache.
„Yes, I know – but the afghan charas is much too strong for me.”
Ich erzähle ihm von der Wasserpfeife beim „kleinen Muck”, die mich für etliche Stunden komplett außer Gefecht gesetzt hat.
„Don’t worry!” beruhigt mich Mohammad.
Dies sei ja keine Wasserpfeife, sondern nur ein kleiner Stick. Der sei „gut für die Verdauung”. Und er würde ja auch gar nicht viel hinein tun.
Er deutet auf die Schale, und tatsächlich hat er nur wenige schwarze Krümel auf den Tabak gestreut. Mit geschickten Fingern vermengt er Tabak und Haschisch und füllt die Mischung in eine leere Zigarettenhülse. Als er die Zigarette anzündet, inhaliert und den Qualm wieder ausatmet, überlagert der intensive, süßlich-harzige Geruch des Rauchs sofort alle Essensdüfte.
Als er sie mir anbietet, nehme ich sie. Nur einen Zug, sage ich mir, höchstens zwei…
So ein Stick schmeckt einfach viel, viel besser als eine simple Zigarette „ohne was drin”, besonders nach einem derartig opulenten Essen.
Und so greife ich noch ein zweites Mal zu, als Mohammad ihn mir wieder hinhält. Und merke zu spät, dass sich meine Nackenhaare – eins nach dem anderen – aufgerichtet haben, dass meine im Schneidersitz verschränkten Beine kribbeln und auf sonderbare Art und Weise nicht mehr zum restlichen Körper zu gehören scheinen, und dass die Wände des schummerig beleuchteten Raumes begonnen haben, vor und zurück zu wabern…
Mohammad erzählt irgendwas, aber ich habe Schwierigkeiten, seinem Geplauder zu folgen.
Stattdessen fällt mir auf, dass er mir ununterbrochen direkt in die Augen sieht, als wolle er mich hypnotisieren. Die Luft zwischen uns kommt mir vor wie die bei einem Sommergewitter, kurz bevor Blitz und Donner losbrechen.
Schlagartig wird mir bewusst, dass niemand weiß, wo ich in diesem Moment bin – im versteckten Hinterzimmer eines abgeschlossenen Ladens in Herat, zusammen mit einem Afghanen, der sich gegen eine arrangierte Ehe mit einem sprach- und gesichtslosen Burka-Phantom sträubt, seit er von einer dänischen Freundin „wachgeküsst” wurde.
Trotz der Hitze laufen mir kalte Schauer über den Rücken.
Ich fange an, mich ziemlich unwohl zu fühlen, und verfluche insgeheim meinen Leichtsinn und meine verdammte Naivität, die mich immer wieder Hals über Kopf in Abenteuer stürzen lassen, von denen ich nicht weiß, wie sie ausgehen…
Andererseits – „the only way to become selfconfident, is to make experiences”, hat Yussuf gesagt, nicht wahr?
Plötzlich fällt mir auch sein Rat wieder ein, selber offen zu sein, um Andere besser zu verstehen. Ich erwidere Mohammads Blick, und nun sehe ich auch die Traurigkeit in seinen schönen Augen.
Klar, denke ich, natürlich sehnt er sich nach einer „neuen Britta”.
Und selbstverständlich träumt er davon, dass ich das wäre; dass ich in Herat bleibe und ihn wieder zu dem glücklichen jungen Mann mache, der er an ihrer Seite war.
Aber seine Augen sagen mir auch, dass er eigentlich nicht wirklich daran glaubt, dass dieser Traum in Erfüllung geht.
Ihn trotzdem weiter hoffen zu lassen, erscheint mir grausamer, als seinen Traum zu zerstören.
Und so warte ich auf eine Pause seines Geplauders, hole Luft und erkläre ihm dann, ruhig und (zu meiner eigenen Überraschung) in fließendem Englisch, dass ich ihn, Mohammad, ganz außerordentlich sympathisch und auch durchaus gutaussehend fände. Dass ich aber, wie ich ihm bereits erzählt habe, nach Nepal wolle und nur auf der Durchreise sei.
Und dass ich ihn zwar sehr, sehr nett fände, aber nicht in ihn verliebt sei – nicht verliebt genug, um eine Änderung meiner Pläne in Erwägung zu ziehen.
Ich überlege kurz und füge dann noch einen unmissverständlich hinzu:
„And I will not have sex with you.”
Mohammad starrt mich mit großen Augen an.
Seine Brauen fahren in die Höhe, seine Gesichtszüge zucken, und dann bricht er in schallendes Gelächter aus.
Ich lache mit ihm, froh darüber, dass er diese Mitteilung so heiter aufnimmt.
„You western women…” stöhnt er und wischt sich eine Lachträne aus dem Auge „you are unbelievable! Crazy!”
Es klingt, als gefiele ihm die unglaubliche, verrückte Art der „Frauen aus dem Westen” ganz gut.
Ich verrate ihm nicht, dass es der Rat eines Türken gewesen ist, der mich dazu gebracht hat, einfach das auszusprechen, was unausgesprochen den ganzen Abend lang für Spannung und eine (zumindest für mich) unbehagliche Athmosphäre gesorgt hätte.
Auch Mohammad kommt mir jetzt, wo diese Frage geklärt ist, weitaus lockerer vor.
„But please – whenever you change your mind,” sagt er mit einem spitzbübischen Grinsen, „don’t forget to tell me!”
Ich nicke und grinse ebenfalls.
Aber sicher, falls ich mir das mit dem Sex noch anders überlege, werde ich es ihn sofort wissen lassen!
Als ich meine Beine ausschüttele, um herauszufinden, ob ich wieder die Herrschaft über sie habe – schließlich muss ich irgendwann demnächst den Rückweg zum Hotel bewältigen – fragt mein Gastgeber besorgt, ob ich das Sitzen auf flachen Kissen unkomfortabel fände.
Nein, beteuere ich, das eigenartige Gefühl in meinen Beinen käme nicht daher, sondern das Haschischrauchen sei mir so heftig in die Beine (und natürlich auch in den Kopf) gefahren. Er mag das gar nicht glauben.
Dieses kleine Eckchen? Er selbst hätte so gut wie keine Wirkung verspürt.
Nun ja, antworte ich, du bist auch ein Afghane. Vermutlich könnte ich dafür viel mehr Wein oder Bier vertragen als du.
Mohammad lacht. Das könnte gut sein, stimmt er mir zu.
„Let me show you something,” sagt er dann, wieder ernsthaft, und greift sich an die Ohren.
„Whenever you are too stoned, you can give a gentle little massage to your ears. You start down here –”, er zieht leicht an seinen Ohrläppchen, „– and then you slowly move your fingers up,” – um sich dann mit Zeigefinger und Daumen an der Ohrmuschel entlang nach oben zu arbeiten.
Ich folge seinen Anweisungen und massiere vorsichtig die Ränder meiner Ohren zwischen zwei Fingern, und tatsächlich habe ich das Gefühl, dass mich das „erdet”, meinen Geist wieder mehr in meinen Körper zurückbringt.
Das leichte Schwindelgefühl hört auf, mein Kreislauf scheint sich zu normalisieren, und das Rauschen in meinem Kopf verstummt.
Gerade will ich begeistert vom Erfolg der Ohr-Massage erzählen, da merke ich, dass ich jetzt zwar kein Rauschen mehr höre, aber dafür ein rhythmisches Klopfen.
Bevor ich begreife, dass dieses Klopfen nicht aus meinem Schädel, sondern von vorn aus dem Laden kommt, ist Mohammad schon aufgesprungen und durch den Vorhang gehuscht.
Er kommt mit Inge zusammen zurück.
„Ein gemütliches Separée ist das hier,” sagt sie und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen. „Ich hoffe, ich störe nicht…”
„Quatsch. Wenn ich vorgehabt hätte, die Nacht hier zu verbringen, hätte ich dich bestimmt nicht gebeten, vorbei zu kommen. Ich bin sehr froh, dass du es noch geschafft hast,” versichere ich und frage sie, ob sie etwas von dem, inzwischen leider abgekühlten, Essen möchte. Eigentlich ist sie schon satt, aber dann probiert sie doch noch einige Häppchen – und ist ebenso begeistert von der afghanischen Küche wie ich.
„Für mich hat es ausgesehen, als wärst du am liebsten doch die ganze Nacht bei ihm geblieben. War das so?” fragt Inge, als wir etwa zwei Stunden später im Schein des Mondes und unserer Taschenlampen in Richtung Hotel schlendern.
Wir haben uns auch zu dritt noch großartig amüsiert, geredet, gescherzt und gelacht. Beim Abschied sah Mohammad mir noch einmal tief in die Augen und fragte mit einem schrägen Lächeln, ob ich es mir nicht vielleicht doch noch anders überlegt hätte…
Einen Moment lang wurden meine Knie etwas weich, aber dann schüttelte ich den Kopf. Nein, dies war weder der Ort noch der Mann für einen One-Night-Stand.
„Mir geht es ein bisschen so, wie dir in Istanbul – ich weiß nicht ganz genau, was ich will und was nicht,” meine ich nachdenklich.
„Aber eines weiß ich ganz sicher: ich will übermorgen früh mit euch weiterfahren, nach Nepal.”