Um kurz nach zehn steuert Rolf den 608 über die Bosporus-Hängebrücke.
Mir ist fast ein wenig feierlich zumute – zum ersten Mal im Leben verlasse ich Europa…
Allerdings, wenn ich ehrlich bin, sieht der asiatische Teil von Istanbul nicht anders aus als der europäische. Und nachdem wir die Stadt verlassen haben, fahren wir durch eine von der Sommersonne ausgedörrte Landschaft in Gelb- und Brauntönen, die der im jugoslawisch-griechischen Grenzgebiet zum Verwechseln ähneln würde, wären die Leute, die man am Straßenrand sieht – vor allem die ausnahmslos Kopftücher und bodenlange Röcke tragenden Frauen – nicht etwas anders gekleidet.
Wir schwitzen schweigend vor uns hin und lauschen den Klängen von Fleetwood Macs neuem Album „Rumours”, und obwohl ich nachts im Hostel noch den Luxus einer lauwarmen Dusche genossen habe, fühle ich mich schon wieder fast so schmuddelig und klebrig wie nach der Fahrt über den Autoput.
Die Vorstellung, nun wieder tagelang im Bus zu hocken – Rolfs Reiseplan sieht den nächsten mehrtägigen Aufenthalt erst jenseits der Grenze zwischen Iran und Afghanistan vor – ist alles andere als reizvoll.
Doch unser Fahrer hat eine kleine Überraschung auf Lager, die die Stimmung an Bord des 608 schlagartig verbessert.
Nach drei oder vier Stunden Fahrt biegt er von der Hauptstraße ab und steuert den Bus über eine holprige Nebenstrecke… hinein in ein entzückendes, von einem klaren Bächlein durchflossenes Tal, so schattig, grün und schön, dass es uns fast wie eine Fata Morgana erscheint!
Neben einem durch einen Steindamm aufgestautem, kleinen Teich endet die Schotterpiste. Rolf stellt den Motor ab und verkündet: „Drei Stunden Picknick- und Bade-Pause!”
Das lassen wir uns nicht zweimal sagen.
Schon nach wenigen Minuten planschen Catherine, Anna, Rosi, Agnes, Inge und ich in dem kleinen Weiher herum, während die beiden Herren sich damit begnügen, die Hosenbeine hochzukrempeln und ihre Füße ins Wasser baumeln zu lassen.
Nach dieser herrlichen Abkühlung wird auf dem Campingkocher Rolfs unvermeidlicher, tiefschwarzer Kaffee und ein großer Topf (Tüten-) Suppe fabriziert. Dazu gibt es frisches Fladenbrot und saftig-süße Weintrauben.
Nach diesem Zwischenstopp sind alle Businsassen erfrischt, gesättigt und deutlich besser gelaunt, und als unser Fahrer eine Kassette mit Beatles-Songs in den Recorder schiebt, grölt von hinten bald ein fröhlicher Damenchor mit: „Ob-La-Di, Ob-La-Da”, „Come Together”, „Something” und „Here Comes The Sun – düdel-düh-daaah…”.
Am späten Nachmittag erreichen wir die türkische Schwarzmeer-Küste.
Auch hier finden sich Strände mit von der Sonne aufgeheiztem, feinen Sand, aber trotzdem will sich bei mir nicht dieses Gefühl von Entspannung fernab aller Alltagsprobleme einstellen, das ich vor einer Woche an jenem griechischen Strand verspürt habe.
Auch hier sind Meer und Himmel blau, doch ich vermisse jene leuchtende Türkis-Nuance, dieses Strahlen der Farben, das mich an der griechischen Mittelmeerküste so bezaubert hat.
Obwohl es ein Binnenmeer ist, werfen sich die Wellen des Schwarzen Meeres weit ungestümer auf den Strand als die des Ägäischen.
Allerlei Treibgut schwimmt darin umher und säumt das Ufer, und das Wasser ist trüb und von so kräftigen Strömungen durchzogen, dass niemand von uns Lust verspürt, mehr als die Füße darin zu baden.
Außerdem fallen dem LKW-Fahrer, der etwa zwanzig Meter hinter unserem Bus gehalten hat, auch so schon fast die Augen aus dem Kopf, als er uns Frauen mit bis über die Knie hochgekrempelten Hosen beziehungsweise hoch gerafftem Rock (Anna) herankommen sieht. Der Anblick unserer Waden und Knie lässt den Mann anscheinend jeglichen Sinn für Anstand vergessen; er starrt ohne Unterlass herüber, in der Hoffnung, noch einmal nackte Frauenbeine – oder vielleicht gar mehr – zu sehen zu kriegen.
Als der glotzende Typ sich immer näher an unserem Bus zwischen den Bäumen herumdrückt, hat Anna genug.
„Wenn wir hier übernachten, leg ich mich nicht draußen hin! Dann will ich bei dir und Catherine im Bus schlafen,” sagt sie zu unserem Fahrer. „Und alle anderen werden das auch wollen – der Kerl ist doch echt gruselig. Warum setzt du dich nicht noch mal hinters Steuer und suchst einen anderen Platz zum Übernachten?”
Rolf nickt. „Du hast recht. Das macht wirklich keinen Spaß.”
Also steigen wir alle wieder ein, und es geht weiter.
Es ist schon fast dunkel, als endlich ein anderer Parkplatz (ohne aufdringliche „Nachbarschaft”) gefunden ist. Es scheint ein Flussdelta, ein Sumpfgebiet oder etwas ähnliches in der Nähe zu sein, denn die Luft ist feucht und schwül, und das Zikadenkonzert ohrenbetäubend.
Wir Frauen breiten unsere Schlafsäcke nebeneinander und ganz dicht beim Bus aus; ein wenig sitzt uns die Angst vor dem aggressiv starrendem Trucker noch im Nacken.
Erst als ich hineinschlüpfe, merke ich, wie müde und erschöpft ich bin.
Dabei habe ich doch den lieben langen Tag nicht viel anderes getan als im Bus zu sitzen, Musik zu hören und aus dem Fenster zu sehen…