27. August
Am Horizont sind bereits die ersten rosig schimmernden Vorboten der demnächst aufgehenden Sonne zu sehen, als ich mich aus dem Daunenschlafsack schäle und vom Beifahrersitz in den hinteren Bereich des Busses klettere, um mich als – für Koffein- und Nikotin-Nachschub zuständige – „Stewardess” des Fahrers von Inge ablösen zu lassen.
Die dramatisch steilen Berghänge und Schluchten, die wir in der Nacht passiert haben, liegen hinter uns, und Rolf schätzt, dass wir gegen Mittag die türkisch-iranische Grenze erreicht haben werden.
Ich quetsche mich in die vorgewärmte Lücke auf der großen Matratze, die durch das Aufstehen der schlaftrunkenen Inge entstanden ist.
Erst kann ich mein „Kopfkissen” – eine zusammengefaltete und in ein Tuch eingeschlagene Jacke – nicht finden, aber dann sehe ich, dass Agnes es sich, zusätzlich zu ihrem eigenen, unter den Kopf geschoben hat. Vorsichtig versuche ich es herauszuziehen, aber sie hält es fest umklammert. Da ich ohne was unterm Kopf nun mal nicht schlafen kann, ziehe ich es mit einem kräftigen Ruck zu mir herüber.
Agnes wacht auf, und offenkundig gehört sie zu den Menschen mit der (mir rätselhaften…) Fähigkeit, bereits in Moment des Erwachens „voll da” und zum Artikulieren verständlicher Sätze imstande zu sein. Jedenfalls faucht sie mich an, es sei eine ungeheuerliche Rücksichtslosigkeit, sie so aus dem Schlaf zu reißen, und dass ich mir ja wohl auch einen anderer Kopfkissen-Ersatz hätte suchen können!
Einen Moment lang liegt mir eine ebenso giftige Erwiderung auf der Zunge – schließlich hat sie auch deshalb mindestens acht Stunden ungestört (und nicht durch einen übermüdeten Fahrer gefährdet) schlafen können, weil ich mir die Nacht um die Ohren geschlagen habe, und überhaupt, warum sollte ich mir ein neues Kopfkissen suchen, wo ich doch längst eins habe? – aber ein ausgiebiges gegenseitiges Ankeifen würde mit Sicherheit auch die anderen Passagiere aufwecken. Außerdem bin ich für so etwas viel zu müde.
Also denke ich mir nur meinen Teil und drehe mich von ihr weg.
Bevor mir die Augen zufallen, sehe ich noch, wie Anna den Kopf hebt und mir aufmunternd zuzwinkert. Ich grinse zu ihr hinüber – und bin im nächsten Moment auch schon eingeschlafen.
Rücksichtsvollerweise weckt man mich erst kurz vor der Grenze.
Auf der türkischen Seite werden wir von gutgelaunten Zöllnern relativ zügig abgefertigt.
Die Tatsache, dass nur zwei Männer, aber sechs junge Frauen im 608 sitzen, ist für sie ein willkommener Anlass für raue, aber nicht feindselige Witzeleien – sie bieten Rolf an, ihm die „überschüssigen” Frauen abzukaufen, und unser Fahrer lässt sich auf ein scherzhaftes Feilschen ein. Trotz des heiteren Tonfalls finde ich es beruhigend zu hören, dass Rolfs Forderungen so exorbitant hoch sind, dass die Zöllner in schallendes Gelächter ausbrechen und Niemand auf die Idee kommt, das Ganze auch nur eine Sekunde lang Ernst zu nehmen.
„Leider ist nicht davon auszugehen, dass es auf der persischen Seite so lustig weitergeht,” erklärt Rolf, während wir auf die iranische Grenzstation Bazargan zurollen.
„Ich bin da jetzt bestimmt mindestens eine Stunde lang wegen des Carnets unterwegs,” fährt er fort, „ihr müsst euch derweil im Hauptgebäude einen Stempel in den Pass machen lassen. Danach müsst ihr dann mit eurem Impfpass in die Baracke da drüben rein und euch eine Bescheinigung ausstellen lassen, dass ihr die vorgeschriebenen Impfungen habt. Und da wir hier nicht übernachten wollen, bitte immer nett und höflich lächeln, egal, was sie sich auch einfallen lassen. Bitte behandelt jeden uniformierten Vollidioten so unterwürfig, als wäre er der verdammte Schah höchstpersönlich, o.k.?”
Die Heiterkeit, die eben noch im Bus geherrscht hat, weicht schlagartig einer beklommenen Stimmung.
Beim Stichwort „Schah” denkt wohl jeder von uns an dessen Deutschland-Besuch vor zehn Jahren, als am 2. Juni 1967 der 26jährige Student Benno Ohnesorg in Berlin von einem Polizisten erschossen wurde.
Zwar war ich im Sommer ‘67 gerade mal zwölf Jahre alt, aber ich erinnere mich noch gut daran, wie entsetzt meine Eltern diese Nachricht aufgenommen und darüber geredet hatten. Meine Mutter hatte nämlich – als eifrige Leserin der Regenbogenpresse – die Geschichten über das Privatleben des Schahs Mohammad Reza Pahlavi, insbesondere über seine Ehe mit der deutschstämmigen Soraya Esfandiary Bakhtiari, verschlungen und glaubte daher, auch „menschliche Seiten” des Despoten zu (er-)kennen. Obwohl sie, wie mein Vater, aus einer traditionell „den Sozis” verbundenen Arbeiterfamilie stammte, hegte sie also gewisse Sympathien für Soraya („die Ärmste!”), wie auch für deren Ex-Gatten…
Allerdings nur bis zu jenen Tagen im Juni, als anlässlich des Schah-Besuchs in Berlin Benno Ohnesorg unter ominösen Umständen ums Leben gebracht wurde – dass seine Frau mit dem ersten gemeinsamen Kind schwanger war, fand Mama besonders tragisch – und am Tag danach, als der Schah nach Norddeutschland weiterreiste, auch in Hamburg die vom SAVAK angeheuerten „Jubelperser” ungestraft Anti-Schah-Demonstranten auf brutalste Weise zusammenprügeln durften, während die deutsche Polizei tatenlos zusah.
„So sieht also das Vorzimmer einer Diktatur aus…”, murmelt Ulli leise, als wir im Gänsemarsch das Zollgebäude betreten. Rolf dreht sich um und wirft ihm einen warnenden Blick zu. „Es gibt hier Leute, die verstehen deutsch!” zischt er, ohne den Mund zu bewegen.
Ich muss mich zusammenreißen, um nicht nervös loszukichern.
Es wimmelt vor Uniformträgern.
Eine vergleichbare Dichte von militärischem Zwirn und glänzenden Abzeichen habe ich erst einmal im Leben gesehen, als das Schicksal vier KommilitonInnen und mich 1975 (auf dem Weg ins seine Befreiung feiernde Portugal) in eine Polizeistation südlich der Pyrenäen verschlug – stimmt, das war auch in einer Diktatur, damals wurde Spanien ja noch von Franco regiert.
Aber das ist eine andere Geschichte…
Hinter einem sehr amtlich wirkenden Tresen befinden sich grimmig blickende Iraner in Operettenuniformen. Über ihren Köpfen hängt ein überlebensgroßes Portrait des Schahs, das in punkto Kitschigkeit und bonbonsüßer Farbgebung jeden röhrenden Hirschen und jede bunt illuminierte venezianische Plastik-Gondel um Längen schlägt.
Wir stellen uns brav ans Ende der schweigend wartenden Schlange, und nach etwa einer halben Stunde bin ich an der Reihe.
Der General (wenn man mal von der Menge des über seine Uniformjacke verteilten Lamettas ausgeht…) hinter dem Tresen blättert so ausgiebig in meinem Pass, als könne er darin die Antworten auf alle wichtigen Fragen des Lebens finden.
Rolfs Anweisungen folgend, lächle ich ihn ununterbrochen freundlich an – bis ich schließlich das Gefühl habe, dass ein Krampf meiner gesamten Gesichtsmuskulatur unmittelbar bevorsteht. Glücklicherweise ist er just in diesem Moment mit dem Studium meines Passes fertig, stempelt ihn schwungvoll ab und schiebt ihn über den Tisch in meine Richtung, während er eine Unterhaltung mit dem rechts von ihm postierten Kollegen beginnt.
Der Kerl hat mich kein einziges Mal angesehen; ich hätte ebenso gut Grimassen schneiden können!
Ich trotte hinüber zu dem kleineren Gebäude, wo wir uns die iranische Impfbestätigung abholen sollen. Dort gibt es weniger Lametta, und die Überprüfung meines Impfausweises dauert auch nicht annähernd so lange wie die meines Reisepasses.
Schon nach zehn Minuten bin ich wieder draußen.
Der Bürgersteig vor diesem Gebäude befindet sich etwa einen halben Meter höher als die davor verlaufende Straße – vermutlich, weil die sich bei Regen in eine Schlammkuhle verwandelt. Ich bleibe stehen, um mir Stempel und Bescheinigung anzugucken.
Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Mann herankommen, rühre mich aber nicht von der Stelle, weil der Gehweg beinahe zwei Meter breit ist. Er hat also jede Menge Platz, um an mir vorbei zu gehen.
Tut er aber nicht.
Der Kerl rennt einfach mitten in mich rein, und wäre ich nicht im letzten Moment doch noch etwas ausgewichen, hätte er mich mit Schwung auf die Straße hinunter befördert.
„Ey, du Idiot, hast du keine Augen im Kopf? Kannst du nicht aufpassen, wo du hinlatscht?” motze ich los.
Dass der eher schäbig gekleidete Mann wahrscheinlich nicht gerade zu den in Deutschland ausgebildeten Militärs oder Geheimdienstlern gehört, die meine Schimpfkanonade verstehen könnten, spielt dabei keine Rolle. In Istanbul, wo ich hin und wieder im Gedränge begrabscht wurde, habe ich gelernt, dass es bei verbaler Gegenwehr nicht auf die Sprache, sondern auf den Tonfall und auf die Lautstärke ankommt.
Doch während die derart bloßgestellten Männer in Istanbul stets peinlich berührt auf meine Tiraden reagierten und schleunigst die Flucht antraten (einer wäre mal fast unter die Räder gekommen, weil er so panisch vom Bürgersteig auf die Fahrbahn sprang), ist dieser Iraner anscheinend der Meinung, es sei sein gutes Recht, mich umzurennen und auf die Straße zu schubsen.
Er antwortet mit einer genauso lauten und noch weitaus empörter klingenden Beschimpfung und kommt mit erhobener Hand auf mich zu. Offensichtlich will er mich schlagen.
Ich bin völlig fassungslos… und wie zur Salzsäule erstarrt.
Glücklicherweise sind inzwischen aber zwei andere Männer, ebenfalls iranische Zivilisten, auf den Vorfall aufmerksam geworden und zu uns geeilt. Sie fallen ihm in den Arm und reden in beruhigendem Tonfall auf ihn ein. Dann gehen sie mit ihm zusammen weg, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
Verwirrt und verärgert bleibe ich zurück – und frage mich, ob ich mit dem Überschreiten der Grenze zum Iran unsichtbar geworden bin?
„Nimm das nicht persönlich,” rät mir Rolf, als ich später im Bus von meinem Erlebnis erzähle. „Diese Kerle können vor lauter Minderwertigkeitskomplexen kaum aus den Augen gucken, und die einzigen, die ihrer Meinung nach noch eine Stufe unter ihnen stehen und denen sie sich überlegen fühlen können, sind nun mal Frauen.”
„Minderwertigkeitskomplex? Mir kam der Knilch eher größenwahnsinnig vor. Der hat echt erwartet, dass ich vom Gehweg springe, damit er den in voller Breite für sich allein hat!”
„Ne, ne, glaub mir, das sind Minderwertigkeitskomplexe,” beharrt Rolf.
„Du musst bedenken, das Persien mal eine richtige Großmacht war. Das ist zwar schon so lange her, dass es schon fast nicht mehr wahr ist – aber nur für uns… Im persischen Großreich gab es mächtige Herrscher, erfolgreiche Eroberer, bedeutende Gelehrte und Künstler, als unsere Vorfahren in Nordeuropa noch auf ‘nem Bärenfell pennten. Und die Erinnerung daran wird hierzulande lebendig gehalten. Nur hat das leider nicht den beabsichtigten Effekt, dass die heutigen Perser stolz auf ihr Land sind, sondern die sehen dadurch eher ihre gegenwärtige politische und wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit noch viel klarer. Ich meine, die Perser profitieren ja nicht mal von ihrem Erdöl selbst – der Schah hat alle Rechte an ausländische Konzerne vergeben…”
Rolf zuckt mit den Schultern.
„Ich stell mir das immer ungefähr so vor, als wenn die USA durch irgendwelche Katastrophen auf das Niveau eines Entwicklungslandes absacken würden. Das würden die Amis auch nicht besonders witzig finden, wenn sie mit ihren Dollars und ihrer Army keinen Hund mehr hinterm Ofen hervor locken könnten.”
Auch wenn mir Rolfs Erklärung einleuchtet, bin ich nach wie vor der Meinung, dass der Typ an der Grenze ein unsympathischer Mistkerl war.
Irgendwie ist mir dieses ganze Land von Anfang an unsympathisch.
Und je mehr wir davon zu sehen bekommen, desto mehr verstärkt sich dieser Eindruck.
Da fahren wir beispielsweise durch ein wirklich elendes kleines Kaff voll bröckelnder, windschiefer Lehmhütten. Es ist mitten in der Wüste, es ist brüllend heiß (mindestens 40 Grad im Schatten), staubig und schmutzig, und ich sehe eine dürre, in schwarzes Tuch gehüllte alte Frau in einem Geröllhaufen herumwühlen.
Und dann, im Zentrum dieses gottverlassenen Ortes: ein mega-kitschiger, verschwenderisch sprudelnder Springbrunnen!
In der Mitte steht ein strahlend weißes, überlebensgroßes Standbild des Schah. Zu seinen Füßen ergießen sich Kaskaden kostbaren Wassers in ein ebenso strahlend weißes Bassin, und eingefasst ist das Ganze von bunten Blumen-Rabatten, von wunderschönen gelben und roten Rosen, den ersten Blumen, die wir in diesem öden Landstrich überhaupt zu sehen bekommen.
„Warum holt sich da denn keiner Wasser – so ausgedorrt, wie die Gärten und Felder der Leute sind?” fragt Anna.
„Darauf steht bestimmt die Todesstrafe,” vermutet Rolf.
„Und warum gehen nicht wenigstens die Kinder im Brunnen plantschen, bei der Hitze…?”
„Darauf steht bestimmt auch die Todesstrafe.”
Spätestens, als wir am Nachmittag bei einer Art Fernfahrer-Cafeteria halten – so etwas wie ein „richtiges” Restaurant scheint es in keinem der Orte, die wir passieren, zu geben – schließen sich die anderen Frauen im Bus meinem vernichtenden Urteil über den Iran an (abgesehen von Catherine, die nicht zum ersten Mal hier ist und ohnehin schon dieser Meinung war)…
Wir nehmen in der Gaststätte an einem großen Tisch Platz, und erst Anna, dann Agnes und zuletzt Inge versuchen, bei einem der herumflitzenden Kellner eine Bestellung aufzugeben. Vergeblich. Sie werden konsequent ignoriert.
Erst als Rolf einem Kellner zuwinkt, kommt der an unseren Tisch und beugt sich dienstbeflissen zu ihm hinunter.
„Okay, Mädels, ich muss ihm jetzt sagen, was ihr zu essen kriegt,” unser Fahrer grinst breit. Offenbar findet er die Situation nicht unkomisch.
„Also, ihr habt die Wahl zwischen Reis mit ranziger Butter, Reis mit Zwiebeln und ranziger Butter und Reis mit Fleisch, Zwiebeln und ranziger Butter.”
Es stellt sich heraus, dass das kein Witz ist.
Ich entscheide mich für Reis mit Butter und (rohen) Zwiebeln, und als ich später die nahezu ungenießbaren, knorpeligen Fleischstücke auf Rosis Teller sehe, beglückwünsche ich mich innerlich zu dieser Wahl.
Unsere erste Nacht in diesem Land verbringen wir auf einer Art Campingplatz, dessen sanitäre Einrichtungen mich ein wenig mit der Unfreundlichkeit seiner männlichen Bewohner versöhnen.
Zwar gibt es auch hier nur kaltes Wasser, aber die Räumlichkeiten sind von einer Sauberkeit, die wir seit Istanbul nicht mehr erlebt haben.