Obwohl wir auch im Iran schon Wüs­ten­ge­bie­te durch­quert haben, habe ich das Lebens­feind­li­che – und zugleich doch unge­heu­er Fas­zi­nie­ren­de – die­ser Land­schaft noch nie so stark emp­fun­den wie hier, irgend­wo auf der „Ring Road” zwi­schen Herat und Kan­da­har.

Ich lie­ge auf der gro­ßen Matrat­ze hin­ten im Bus, und die brü­ten­de Hit­ze und der Anblick der sand­far­be­nen Ein­öde ver­set­zen mich in einen Däm­mer­zu­stand zwi­schen Schla­fen und Wachen.

Mei­ne Zun­ge klebt am Gau­men, obwohl ich mei­nen Trink­be­cher vor nicht ein­mal zehn Minu­ten am Was­ser­ka­nis­ter gefüllt und gie­rig geleert habe.

Ich ver­bie­te mir, ihn schon wie­der auf­zu­fül­len, denn ich will nicht die­je­ni­ge sein, wegen der nächs­te „Pin­kel-Pau­se” ein­ge­legt wer­den muss. Rolf hält ungern und nur unter halb­lau­tem Genör­gel auf frei­er Stre­cke an; des­halb war­ten alle Pas­sa­gie­re lie­ber ab, bis der von unse­rem Fah­rer mas­sen­haft kon­su­mier­te Kaf­fee ihn zu einem Stopp zwingt.

Ich star­re mit müden Augen in eine stau­bi­ge Lee­re unter einer erbar­mungs­los sen­gen­den Sonne.

Mei­ne Keh­le fühlt sich wund und aus­ge­trock­net an, und auch der Rest von mir scheint lang­sam zu ver­dor­ren. Mein Bewusst­sein löst sich von mei­nem Kör­per und schwebt hin­aus in die flir­ren­de Luft über der Wüste…

Am Abend wer­de ich in mein Rei­se­ta­ge­buch schreiben:

Wo bin ICH? Ver­lo­ren. Irgend­et­was bäumt sich auf

in namen­lo­ser Panik.

War­um habe ich Angst, es gibt doch Liebe…

Dann: die Rück­kehr. Rück­kehr von wo?

Wenn du einen Bume­rang über den Hori­zont hin­weg schleuderst,

kommt nicht der­sel­be Bume­rang zurück.

Neu­ge­bo­re­ne sind die Meis­ter des Zen.

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Auf­ge­reg­te Aus­ru­fe mei­ner Mit­rei­sen­den wecken mich.

Sowas hab’ ich ja noch nie gese­hen,” höre ich Rolf mit erstaun­ter Stim­me sagen.

Ich grei­fe nach mei­ner Bril­le und set­ze mich auf, und was ich drau­ßen sehe, ent­lockt auch mir ein ver­blüff­tes „Wow!”

Die Wüs­te blüht.

Zwi­schen Sand und Stei­nen sind wie aus dem Nichts brei­te Strei­fen nied­ri­ger Flech­ten auf­ge­taucht, die fast nur aus pink­far­be­nen Blü­ten bestehen.

Ihre knal­li­ge Far­be wirkt in die­ser bis­lang von stau­bi­gen Ocker- und Braun­tö­nen domi­nier­ten Gegend der­ma­ßen unwirk­lich, dass ich mich in den Arm zwi­cke, um sicher zu sein, dass ich tat­säch­lich wach bin.

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Jetzt hält Rolf end­lich an.

Alles stürzt aus dem 608, um das Natur­wun­der näher in Augen­schein zu nehmen.

Es muss hier kürz­lich gereg­net haben, was, wie Rolf uns ver­si­chert, nur sehr, sehr sel­ten vor­kommt. Die san­di­ge Erde ist jetzt auch schon wie­der ganz fest und ausgetrocknet.

Offen­bar konn­te das Regen­was­ser in die­sem von der Son­ne „hart geba­cke­nen” Boden nicht gleich ver­si­ckern und hat sich an den tie­fe­ren Stel­len gesam­melt. Dort, wo sich die Feuch­tig­keit am längs­ten gehal­ten hat, sind dann in Win­des­ei­le die­se klei­nen Pflänz­chen erblüht.

Wir nut­zen den Halt, um eben­falls „die Wüs­te zu begie­ßen”, wie Ulli es aus­drückt, und Cathe­ri­ne pflückt ein paar der blü­hen­den Zweiglein.

Als es wei­ter­geht, füh­le ich mich eini­ger­ma­ßen aus­ge­ruht und erfrischt, obwohl ich höchs­tens eine Stun­de geschla­fen und nur einen Becher Was­ser getrun­ken habe.

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Lei­der gibt es nun wie­der meh­re­re Stun­den lang nichts Auf­re­gen­des mehr zu sehen, abge­se­hen von zwei oder drei mit far­ben­fro­hen Blu­men und Schrift­zei­chen bemal­ten afgha­ni­schen Trucks.

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Bei den ver­schlun­ge­nen Schrift­zei­chen der Bema­lung han­delt es sich wohl um from­me Sprü­che und Segens­wün­sche, die die Trucks, ihre Fracht und die Fah­rer vor Unheil bewah­ren sol­len, den­ke ich.

Zumin­dest fän­de ich das sehr sinn­voll – nach­dem ich gese­hen habe, in wel­chem hals­bre­che­ri­schen Tem­po die bun­ten Fahr­zeu­ge über die Pis­te holpern.

Als wir eini­ge sand­far­be­ne Gebäu­de pas­sie­ren, fra­ge ich mich, ob die wohl bewohnt sind – und wenn ja, wovon ihre Bewoh­ner leben mögen. Weit und breit sind näm­lich weder Pflan­zen noch Tie­re zu ent­de­cken; nicht ein­mal tro­cke­nes Gestrüpp wächst hier.

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Eine hal­be Stun­de spä­ter errei­chen wir jedoch eine Oase, die uns (wie schon die rosa Wüs­ten­blu­men) anschau­lich vor­führt, wie etwas Was­ser die­se unwirt­li­che Öde in einen klei­nen Gar­ten Eden ver­wan­deln kann. Die von einer Lehm­mau­er umschlos­se­ne Vege­ta­ti­ons-Insel strotzt nur so vor Grün.

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Hin­ter einer Kur­ve bremst Rolf scharf ab, weil eine Hor­de Zie­gen die Stra­ße überquert.

Die Eigen­tü­mer der Tie­re ste­hen neben ihren Kame­len am Stra­ßen­rand und mus­tern uns eben­so inter­es­siert wie wir sie.

Es sind Kuchis, Noma­den, die mit ihren Tie­ren durch das gan­ze Land ziehen.

Die Män­ner tra­gen Tur­ba­ne, Hosen und Jacken in gedeck­ten Far­ben, aber die wei­ten Hosen und bestick­ten Klei­der der – unver­schlei­er­ten – Frau­en sind aus leuch­tend far­bi­gen und geblüm­ten Stoffen.

Eine der Frau­en zieht mei­ne beson­de­re Auf­merk­sam­keit auf sich, weil sie sehr groß ist und ihre stol­ze, sehr auf­rech­te Hal­tung mich an eine Fla­men­co-Tän­ze­rin erin­nert. Sie ist mit schwe­ren, reich ver­zier­ten Sil­ber­ket­ten und Ohr­ge­hän­gen geschmückt; ihr Kopf­tuch ist auf ihre Schul­tern hin­un­ter gerutscht, und ein­zel­ne Locken ihrer dunk­len Haa­re haben sich aus dem dicken Zopf an ihrem Hin­ter­kopf gelöst.

Als sich unse­re Bli­cke begeg­nen, schaue ich gebannt in gro­ße, ernst bli­cken­de Augen von uner­war­te­ter Far­be. Umrahmt von schwar­zem Kajal, schei­nen ihre unge­wöhn­lich hel­len, blau-grü­nen Augen von innen her­aus zu leuchten.

Mein Gott, ist die schön!” sage ich zu Anna, die neben mir sitzt – lei­se, als kön­ne mich die Kuchi-Frau drau­ßen vor dem Bus verstehen.

Anna nickt.

Ja, auch eine wun­der­schö­ne Wüstenblume…”

Wir errei­chen Kan­da­har am frü­hen Abend.

Von der Stadt sehen wir nicht viel, da Rolf gera­de­wegs das Hotel ansteu­ert, in des­sen klei­nen Hof er den Bus über Nacht abstel­len will.

Am bes­ten, ihr nehmt euch gleich hier Zim­mer. Das Hotel ist zwar ein ziem­li­cher Schup­pen, aber was Bes­se­res wer­det ihr in die­ser Ecke Kan­da­hars kaum fin­den,” erklärt er.

Außer­dem will ich mor­gen nicht all­zu spät wie­der los.”

Inge und ich fra­gen an der „Rezep­ti­on” (die aus einem Pasch­tu­nen besteht, der sich von einem spe­ckig glän­zen­den Sitz­kis­sen neben der Ein­gangs­tür erhebt) nach einem Dop­pel­zim­mer, aber angeb­lich gibt es in die­sem Eta­blis­se­ment nur Einzelzimmer.

Die Ein­rich­tung mei­nes „Sin­gle Rooms” besteht aus einem Bett mit einer dün­nen, durch­ge­le­ge­nen Matrat­ze und einem schmut­zi­gen Laken darauf.

Ich bin sehr froh, dass ich mich hier in einen eige­nen Schlaf­sack hül­len kann, und auch dar­über, dass ich zudem (Rolfs Rat befol­gend) ein mas­si­ves Vor­hän­ge­schloss west­fä­li­scher Fer­ti­gung ein­ge­packt habe. Die nied­li­chen indi­schen Schlös­ser, die die Rezep­ti­on zum Ver­rie­geln der Käm­mer­chen zur Ver­fü­gung stellt, sehen aus, als kön­ne man sie mit zwei Fin­gern knacken.

Und weiß ich, wer noch alles einen Schlüs­sel dafür hat?

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Die psy­che­de­li­schen Wand­be­ma­lun­gen in dem Kabuff inter­pre­tie­re ich als Hin­weis dar­auf, dass frü­he­re Bewoh­ner die­ses Rau­mes offen­bar ver­sucht haben, sich mit dem Kon­sum von reich­lich Cha­ras für die Trost­lo­sig­keit ihrer Unter­kunft zu entschädigen.

Aber ich muss hier ja nur eine ein­zi­ge Nacht verbringen.

Und habe zudem gera­de ganz ande­re Inter­es­sen: mein Magen knurrt näm­lich laut und vernehmlich.

Ich gehe zu Inges Zim­mer hin­über (das eben­so fens­ter­los und schmud­de­lig ist wie meins) und fra­ge sie, ob sie auch hung­rig ist.

Sie ist es, und wir wun­dern uns bei­de, woher unser Hun­ger kommt; schließ­lich haben wir doch heu­te nur im Bus geses­sen oder gelegen…

Es scheint in die­sem Vier­tel nur ein ein­zi­ges Restau­rant zu geben, und das befin­det sich direkt neben unse­rem Hotel. Wir lau­fen noch ein Stück die Stra­ße hin­un­ter und gucken in ein paar Sei­ten­stra­ßen – die machen aber alle einen so fins­te­ren Ein­druck, dass wir die Suche nach Alter­na­ti­ven bald einstellen.

Die Gast­stät­te ent­puppt sich als etwas, was man in Ham­burg eine „Spe­lun­ke” nen­nen wür­de. Zwar wird hier kein bil­li­ger Fusel aus­ge­schenkt (zumin­dest bekom­men wir nichts der­glei­chen mit), aber die weni­gen Gäs­te gehö­ren zu der Sor­te Zeit­ge­nos­sen, bei deren Anblick man sei­ne Tasche fest im Griff behält und denen man lie­ber nicht den Rücken zukehrt.

Wir quet­schen uns hin­ter einen Tisch in einer Ecke und bestel­len bei einem schie­len­den Kell­ner Qua­bi­li, das afgha­ni­sche Gericht, das uns bei Moham­mad so gut geschmeckt hat.

Die braun-graue Pam­pe aus zer­koch­tem Reis und zähen Bröck­chen unde­fi­nier­ba­ren Flei­sches, die uns dar­auf­hin vor­ge­setzt wird, hat aber lei­der – optisch wie geschmack­lich – nicht die gerings­te Ähn­lich­keit mit der köst­li­chen Spei­se, die wir vor­ges­tern Abend in Herat genie­ßen durf­ten. Allein schon die kleb­ri­gen Tel­ler, an deren Unter­sei­te ver­krus­te­te Sau­cen­res­te kle­ben, wür­den uns nor­ma­ler­wei­se davon abhal­ten, die­ses Zeugs zu essen, wenn – ja, wenn wir nicht so aus­ge­hun­gert wären.

Doch mehr als eine hal­be Por­ti­on von dem Fraß schaf­fen wir bei­de nicht.

7. Sep­tem­ber

Nach einer unru­hi­gen Nacht bin ich schon sehr früh wach.

Eigent­lich habe ich fast gar nicht geschla­fen – in der Kam­mer war es uner­träg­lich sti­ckig, und ich hat­te Sod­bren­nen. Immer wie­der bin ich auf­ge­stan­den und habe mich in die offe­ne Zim­mer­tür gestellt, um fri­sche Luft zu schnappen.

Ich rol­le den Schlaf­sack auf, packe mei­ne weni­gen Sachen zusam­men und sehe dann nach, ob Rolf und Cathe­ri­ne schon auf sind. Doch die Vor­hän­ge vor ihrem „Schlaf­ge­mach” hin­ten im 608 sind noch zuge­zo­gen, und auch von den ande­ren Mit­rei­sen­den ist noch nichts zu sehen.

In dem düs­te­ren Käm­mer­chen will ich nicht war­ten; also hän­ge ich das dicke Vor­hän­ge­schloss an die Tür und gehe ein biss­chen spa­zie­ren, immer an der Mau­er ent­lang, die das Gebäu­de und den Hof des Hotels umgibt. Als ich auf der Rück­sei­te des Kom­ple­xes ange­langt bin, will ich in eine schma­le Gas­se ein­bie­gen – und blei­be wie ange­wur­zelt ste­hen, als ich rea­li­sie­re, was für eine Stra­ße das ist.

Es ist die Stra­ße der Fleischerläden.

Der Anblick der gehäu­te­ten Tie­re, Tier-Tei­le und Schä­del mit lee­ren Augen­höh­len, die vor den Läden auf­ge­hängt oder auf­ge­spießt sind und von ekel­haft dicken schwar­zen Flie­gen umschwirrt wer­den, lässt mich ernst­haft über einen Wech­sel zur vege­ta­ri­schen Ernäh­rung nachdenken.

In die­ser Stra­ßen ist schon rich­tig was los, offen­bar ist der frü­he Mor­gen eine gute Zeit, um Fleisch einzukaufen.

Wür­de ich ver­mut­lich auch machen, über­le­ge ich – wenn so ein toter Ham­mel den gan­zen Tag im Frei­en und in der Son­ne vor sich hin stinkt, wird er bestimmt nicht besser.

Wäh­rend ich Händ­ler und Kun­den mit einer Mischung aus Fas­zi­na­ti­on und Abscheu beob­ach­te, fällt mir auf, wie eigen­tüm­lich lang­sam sie sich bewe­gen, fast wie in Zeit­lu­pe. Ab und zu hebt jemand eine Hand und scheint mit einer gemäch­li­chen Bewe­gung einen unsicht­ba­ren Schlei­er vor sei­nem Gesicht bei­sei­te zu schieben.

Dann erst erken­ne ich die Hor­nis­sen.

Die Luft ist voll von ihnen, und auch die dunk­len Klum­pen auf dem rohen Fleisch bestehen nicht – wie ich im ers­ten Moment gedacht habe – aus Flie­gen, son­dern aus den fleisch­fres­sen­den Großwespen.

Die Afgha­nen gehen mit­ten durch die Hor­nis­sen­schwär­me hin­durch, als wäre das die nor­mals­te Sache der Welt; abge­se­hen davon, dass sie ihre Schrit­te und Bewe­gun­gen etwas verlangsamen.

Mit einem leich­ten Schau­der rei­ße ich mich von dem Anblick los und beschlie­ße, mei­nen Spa­zier­gang nicht fort­zu­set­zen und an die­ser Stel­le umzukehren.

Als ich wie­der in den Hof des Hotels ein­bie­ge, sind Rolf und Cathe­ri­ne gera­de auf­ge­stan­den, und Rosi und Agnes kom­men mit Schlaf­sack und Gepäck aus dem Gebäude.

Schnel­les Früh­stück beim Bus, in einer hal­ben Stun­de geht es los!” ruft unser Fah­rer ihnen zu. 

Die Fahrt von Kan­da­har nach Kabul ver­schla­fe ich.

Wenn ich zwi­schen­durch mal wach wer­de, klet­te­re ich zum Was­ser­ka­nis­ter, trin­ke etwas und krab­be­le dann wie­der hin­ten auf die Matrat­ze, um den in der letz­ten Nacht ver­säum­ten Schlaf nachzuholen.

Erst am Abend, als wir in der Haupt­stadt Afgha­ni­stans ankom­men, wer­de ich wie­der etwas mun­te­rer und set­ze mich ans Fenster.

Kabul ist zwei­fel­los eine recht gro­ße Stadt, die auch eini­ge brei­te Stra­ßen und gro­ße Plät­ze auf­zu­wei­sen hat. Aber den­noch wirkt sie so gar nicht europäisch.

Nicht nur die Afgha­nen mit ihren Tur­ba­nen und Müt­zen, son­dern auch die Archi­tek­tur mit ihren zahl­rei­chen sand­far­be­nen Kup­peln und den von Mau­ern umge­be­nen Häu­sern und Höfen kenn­zeich­nen Kabul als typisch afgha­ni­sche Stadt – wie Herat, nur eben größer.

Als wir über einen weit­läu­fi­gen Platz im Zen­trum fah­ren, kom­men wir an der west­lich wir­ken­den Fas­sa­de eines Super­mark­tes vorbei.

Da gibt es ALLES – vom fran­zö­si­schen Camen­bert bis zu schot­ti­schem Whis­ky,” erklärt uns Rolf, „aber es kos­tet auch alles ein Ver­mö­gen. Da gehen die Diplo­ma­ten shoppen.”

Der Super­markt wirkt wie ein Fremd­kör­per. Er passt über­haupt nicht hier­her, nicht in die­se Stadt.

Unser Fah­rer steu­ert ein Hotel nicht weit vom Stadt­zen­trum an, in des­sen Gar­ten er par­ken und preis­güns­tig über­nach­ten kann.

Die Zim­mer dort sind aber recht teu­er,” meint er und rät uns, für die fünf Tage, die wir in der Stadt ver­brin­gen wer­den, lie­ber was Bil­li­ge­res „im Dunst­kreis der Chi­cken Street” zu suchen.

Rosi und Agnes ent­schei­den sich den­noch für das Edel-Hotel, und die Aus­sicht auf sau­be­re Zim­mer und fri­sche Bett­wä­sche führt auch mich einen Moment lang in Versuchung.

Ich erkun­di­ge mich an der Rezep­ti­on nach den Prei­sen; sie sind wirk­lich exor­bi­tant, und Inge wei­gert sich zu Recht, hier abzusteigen.

Mein Blick fällt auf die glä­ser­ne Tür eines neben der Rezep­ti­on ste­hen­den Schran­kes, in dem „Coca Cola”-, „Sprite”- und „Seven Up”-Flaschen auf­ge­reiht stehen.

Plötz­lich habe ich ein flau­es Gefühl im Magen, und mich über­kommt eine irr­sin­ni­ge Lust auf eine eis­kal­te Cola.

Ich kau­fe mir eine Fla­sche, trotz ihres eben­falls aben­teu­er­lich hohen Prei­ses, und wäh­rend ich sie öff­ne, ver­stärkt sich das Gefühl von Übelkeit.

Irgend­wie ist mir schlecht,” sage ich zu Inge.

Mir auch,” gibt sie zurück – und bestellt sich eben­falls eine Cola.

Lei­der hat das süße Erfri­schungs­ge­tränk nicht die erhoff­te Wir­kung, mei­nen in Auf­ruhr gera­te­nen Magen zu besänf­ti­gen. Statt­des­sen nekom­me ich hef­ti­ge Krämp­fe, die mich zwin­gen, eilends die – glück­li­cher­wei­se piek­fein geputz­te – Hotel­toi­let­te aufzusuchen.

Auf dem Rück­weg zur Rezep­ti­on begeg­net mir eine blas­se Inge, die sich die Hand vor den Mund hält und mit schnel­len Schrit­ten in Rich­tung WC strebt.

Das sieht ver­dammt nach einer aus­ge­wach­se­nen „diar­rhea” aus,” sagt Rolf und guckt mich mit­lei­dig an. Er benutzt die eng­li­sche Bezeich­nung für Durch­fall­erkran­kun­gen, die ich in der nächs­ten Zeit sehr viel öfter hören und sagen wer­de, als mir lieb ist…

Mei­ne Güte, ist mir übel!”

Was habt ihr denn ges­tern so zu euch genommen?”

Ich erzäh­le von dem nicht son­der­lich appe­tit­li­chen Abend­essen, das Inge und ich in Kan­da­har hat­ten – allein beim Gedan­ken dar­an muss ich jetzt fast bre­chen – und unser Fah­rer wiegt sor­gen­voll sein Haupt.

Das Pro­blem war wahr­schein­lich gar nicht das Essen,” meint Cathe­ri­ne, „son­dern die Tel­ler und das Besteck. Es gibt ein­fach nicht genug sau­be­res Was­ser, um das Geschirr ver­nünf­tig abzu­wa­schen. Und den Afgha­nen ist das auch nicht so wich­tig, sie selbst sind natür­lich schon ziem­lich resis­tent gegen die­se Keime…”

Die gute Nach­richt ist, dass es sich dann wahr­schein­lich bloß um eine bak­te­ri­el­le Infek­ti­on han­delt,” sagt Rolf trös­tend, „und nicht um eine rich­tig üble Sache – wie zum Bei­spiel eine Amö­ben­ruhr. Das heißt, ihr seid in zwei, drei Tagen durch damit!”

Den Gedan­ken, dass mir meh­re­re Tage so kot­zel­end sein soll wie jetzt im Moment, fin­de ich den­noch nicht beson­ders reizvoll.

Ich wüh­le im Kof­fer nach mei­ner klei­nen Rei­se-Apo­the­ke und fische die Koh­le­ta­blet­ten her­aus, die ich für der­ar­ti­ge Not­fäl­le ein­ge­packt habe. Mit ein paar Schlu­cken Cola zusam­men wür­ge ich zwei der gro­ßen schwar­zen Tablet­ten hin­un­ter – und muss weni­ge Minu­ten spä­ter zur Toi­let­te ren­nen, um mich zu über­ge­ben. Die Tablet­ten ver­las­sen mei­nen Kör­per prak­tisch in Ori­gi­nal­grö­ße wieder…

Auch Inge geht es von Minu­te zu Minu­te schlechter.

Kurz ent­schlos­sen neh­men wir unser Gepäck und trot­ten in Rich­tung des gro­ßen Plat­zes im Zen­trum der Stadt. Wir beschlie­ßen, in einem schä­big wir­ken­dem Hotel-Klotz direkt dahin­ter nach einem Zim­mer zu fra­gen; nicht, weil uns die­ses Haus beson­ders gut gefällt, son­dern weil wir ein­fach nicht mehr wei­ter können.

Unse­re ers­te Fra­ge an der Rezep­ti­on gilt dann auch nicht den Zim­mer­prei­sen, son­dern der Toilette…

Das Zim­mer, das wir hier für ein klei­nes Geld anmie­ten, hat gro­ße Ähn­lich­keit mit einer Gefäng­nis­zel­le. Es ist ein schma­ler, hoher Raum mit einer klei­nen, ver­git­ter­ten Fens­ter­öff­nung, durch die man nicht hin­aus sehen kann, weil sie sich in etwa zwei­ein­halb Metern Höhe direkt unter der Decke befindet.

Möbliert ist der Raum mit zwei prit­schen­ähn­li­chen Metall­bet­ten, einem wacke­li­gen klei­nen Tisch und einem eben­so alters­schwa­chen Stuhl.

Jedes Mal, wenn sich mei­ne Gedär­me ver­kramp­fen oder mir der Magen­in­halt aus dem Gesicht zu hüp­fen droht, muss ich das Zim­mer ver­las­sen und den lan­gen, engen Flur hin­un­ter zum Bade­zim­mer lau­fen. Es sind unge­fähr sechs Meter – eine Distanz, die sich im Lau­fe die­ser Nacht zwei­mal als zu lang für mich erweist. Glück­li­cher­wei­se befin­det sich dort außer dem WC auch eine Dusche mit (spär­lich) flie­ßen­dem kal­ten Wasser.

Inge und ich las­sen uns unge­zu­cker­ten, schwar­zen Tee aufs Zim­mer brin­gen, aber nicht ein­mal der will im Magen bleiben.

In Embryo­nal­hal­tung zusam­men­ge­krümmt, dösen wir schließ­lich auf unse­ren Prit­schen ein. Wäh­rend der gan­zen Nacht wer­den wir etwa im Stun­den­takt von unse­ren revol­tie­ren­den Inne­rei­en geweckt, sprin­gen auf und stür­zen hin­aus in Rich­tung Badezimmer.

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8. und 9. September

Die nächs­ten zwei Tage ver­brin­gen wir in unse­rer „Zel­le”.

Wir lie­gen völ­lig erschöpft auf den unbe­que­men, klum­pi­gen Matrat­zen her­um, ver­su­chen immer wie­der, etwas Tee bei uns zu behal­ten, und die Stre­cke zum Bad bewäl­ti­gen wir nach eini­ger Zeit bereits im Halbschlaf.

In der nächs­ten Nacht kann ich ein­mal gut vier Stun­den am Stück schla­fen, bevor ich mich wie­der auf den Weg den Flur hin­un­ter machen muss.

Das tut mir unge­heu­er gut, und auch Inge sieht am zwei­ten Mor­gen schon etwas weni­ger blass und gerä­dert aus.

Inzwi­schen gelingt es uns auch, etwas von dem abge­kühl­ten schwar­zen Tee, den wir in klei­nen Schlu­cken trin­ken, im Magen zu behal­ten. Der stän­di­ge Brech­reiz hat zwar auf­ge­hört, aber wir wagen es immer noch nicht, uns wei­ter als zehn, zwan­zig Meter von der Toi­let­te zu entfernen…

Am spä­ten Nach­mit­tag des zwei­ten Tages set­zen wir uns in den Hof des Hotels, um nach all den Stun­den in dem düs­te­ren Zim­mer ein paar Son­nen­strah­len zu genießen.

Mei­ne Güte,” sagt Inge und mus­tert mich mit gro­ßen Augen, „ich glau­be, wir zwei haben in den letz­ten drei Tagen min­des­tens vier Kilo abgenommen!”

Das macht nichts,” erklä­re ich, das Gesicht mit halb­ge­schlos­se­nen Augen der Son­ne zuge­wandt, „wenn es stimmt, was Cathe­ri­ne und Rolf über die Restau­rants in Delhi erzäh­len, neh­men wir die paar Kilos spä­tes­tens dort wie­der zu!”

Ich den­ke, ich bin auf dem Weg der Bes­se­rung.” Inge lächelt ver­son­nen. „Ich krie­ge näm­lich beim Gedan­ken dar­an rich­tig Hunger.”

Stimmt. Auch ich kann wie­der an Essen den­ken, ohne gleich zu wür­gen anzufangen.

Aber trotz mei­nes wie­der erwa­chen­den Appe­tits wür­de mich noch nicht trau­en, irgend­was zu essen – außer vielleicht…

Der Super­markt! Rolf hat doch gesagt, da gibt es Alles – dann haben die doch bestimmt auch Zwie­back oder so etwas Ähnliches!”

Wir pla­nen unse­ren klei­nen Ein­k­auf­trip generalstabsmäßig.

Zuerst suchen wir bei­de noch ein­mal das WC auf, dann mar­schie­ren wir zügi­gen Schrit­tes zum Super­markt, wo wir kei­nen Blick auf all die teu­ren Köst­lich­kei­ten ver­schwen­den, son­dern direkt das Gebäck-Regal ansteu­ern, wo wir eine gro­ße Tüte deut­schen Zwie­back und ein klei­ne­res Päck­chen eng­li­scher Cra­cker auswählen.

Wir bezah­len dafür den Gegen­wert eines kom­plet­ten Menüs in mei­ner Ham­bur­ger Stamm-Piz­ze­ria und keh­ren dann auf dem kür­zes­ten Weg ins Hotel zurück.

Als wir eine hal­be Stun­de spä­ter auf unse­ren Bet­ten hocken und mit Hoch­ge­nuss in kal­ten Tee getunk­ten Zwie­back ver­zeh­ren, beschlie­ßen wir, dass der schlimms­te Teil unse­rer „Kan­da­har-Diar­rhoe” wohl über­stan­den ist – und wir uns mor­gen früh ein ange­neh­me­res Hotel suchen werden. 

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Wei­ter­le­sen » 14. Has­ta la vis­ta, Kabul