10. September
Es ist unser dritter Tag in Kabul, aber als wir – mit Koffer, Rucksack und Taschen beladen – an diesem Vormittag in die berühmte „Chicken Street” einbiegen, kriegen wir zum ersten Mal richtig mit, in was für einer quirligen, orientalischen Metropole wir hier gelandet sind.
Im Bazar von Istanbul hatte ich geglaubt, mich im ultimativen „Morgenland” der Geschichten aus 1001 Nacht zu befinden. Doch jetzt wird mir klar, wie modern und westlich die Stadt am Goldenen Horn und ihre Bewohner schon sind, wie viel Einfluss Technik und Lebensweisen des 20. Jahrhunderts dort bereits haben. Denn hier, im Zentrum von Kabul, könnte es vor hundert oder zweihundert Jahren beinahe genauso ausgesehen haben wie heute – wenn man sich die wenigen klapperigen Kraftfahrzeuge und die buntgekleideten Ausländer mal weg denkt.
Im Unterschied zu Herat und Kandahar kann man ein paar unverschleierte einheimische Frauen entdecken, doch auch hier dominieren männliche Passanten das Straßenbild.
Außer einigen Kuchi-Ladies in ihrer farbenprächtigen, bestickten Kleidung entdecken wir drei oder vier Frauen, die keine Burka, sondern Kopftuch, lange Röcke und Wolljacken mit langen Ärmeln tragen – wir sind jedoch nicht ganz sicher, ob es wirklich Afghaninnen sind.
Auch unter den auf dem Hippie Trail reisenden Ausländern, die in der Chicken Street unterwegs sind und die Auslagen der Geschäfte mit mehr oder weniger Interesse begutachten, sind Frauen in der Minderheit. So erregen wir schnell die Aufmerksamkeit der Anbieter von Hotelzimmern, Kunsthandwerk, Textilien, Schmuck und diverser Drogen.
Der Ansturm wird uns schnell zuviel.
Gerade so einigermaßen von unserer „Kabulitis” genesen, sind wir immer noch wackelig auf den Beinen und wollen einfach nur unsere Ruhe. Wir flüchten in den Toreingang eines Hotels, das allein schon deshalb einladend auf uns wirkt, weil kein Mensch davor steht und uns im zum Eintreten zu überreden versucht.
Diese spontane Entscheidung für das „Koochi Hotel” erweist sich als Glücksgriff. Wir betreten einen großen Innenhof, dessen dicke Mauern den Lärm der Straße zu einem dezenten Hintergrundgeräusch herab dämpfen und in dem mit Sonnensegeln überdachte Tische und Bänke stehen.
Der Inhaber des Hotels spricht exzellent Englisch und begrüßt uns freundlich.
Er zeigt uns ein geräumiges, mit Waschbecken, Schrank, Tisch und zwei Stühlen ausgestattetes Drei-Bett-Zimmer, dessen vergitterte Fenster zum Hof hinaus gehen. Seine Doppelzimmer seien zur Zeit alle belegt, erklärt er, aber er bietet uns den Raum zum selben Preis an.
Wir überlegen nicht lange.
Zwar sind die Möbel staubig, die Wände fleckig, und die Matratzen machen einen schmuddeligen Eindruck, aber der Raum ist groß, lichtdurchflutet und zudem deutlich billiger als die düstere Zelle, in der wir die ersten drei Nächte verbracht haben.
Später werden wir von anderen Hotelgästen erfahren, dass wir mehr Glück haben, als wir zu diesem Zeitpunkt ahnen – die Betten in unserem Zimmer scheinen nämlich die einzigen im Hause zu sein, deren Matratzen nicht von blutgierigen Wanzen bewohnt sind.
Inge und ich verstauen unsere Sachen im Schrank und setzen uns dann draußen im Hof, wo sich der Hotelbesitzer zu uns gesellt und sich erkundigt, ob wir gerade erst angekommen wären. Wir erklären ihm, dass wir schon seit drei Tagen in Kabul sind, dass uns aber eine „diarrhea” bis jetzt davon abgehalten hat, die Stadt kennen zu lernen.
Er nickt mitfühlend – ja, die Krankheit sei besonders in dieser trockenen Jahreszeit ein großes Problem.
„Now we are hungry and thursty,” sage ich, „but we don’t know what to eat or drink.”
Er empfiehlt uns, es zunächst mit starkem schwarzen Tee (ohne Zucker) zu versuchen, den wir aber nicht heiß trinken, sondern erst etwas abkühlen lassen sollten. Und essen sollten wir am besten erst einmal nur „plain white rice”, weißen Reis ohne irgendwelche Beilagen. Ob er beides für uns in der Küche des Hotels zubereiten lassen soll?
Entzückt nehmen wir das nette Angebot an.
Unser Gastgeber begibt sich in ein flaches Nebengebäude, in dem sich wohl die Hotelküche befindet. Nach etwa zehn Minuten kommt er zurück, gefolgt von drei jungen Männern, von denen zwei eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm haben – vielleicht sind es seine Söhne oder Neffen.
Einer trägt eine großen Teekanne, ein anderer ein Tablett mit zwei Gläsern. Beides wird auf dem Tisch abgestellt, und während sich der Hausherr sich uns gegenüber niederlässt, bleiben die drei unschlüssig neben dem Tisch stehen.
Inge wirft mir einen amüsierten Blick zu, denn die jungen Afghanen können ihre Augen kaum von ihren blonden Haaren losreißen, bemühen sich aber angestrengt, sie nicht zu auffällig anzustarren. Schließlich stellt der Mutigste mit leiser Stimme eine Frage, und der Hotelier übersetzt – er würde gern wissen, aus welchem Land wir kommen.
Die Auskunft „Germany” sorgt für die Lobeshymnen auf deutsche Autos und deutsche Technik, die wir schon kennen. Glücklicherweise wird diesmal aber nicht Hitler als weiterer Grund für das positive Image Deutschlands genannt.
Die nächste Frage gilt unserer Heimatstadt, und als Inge und ich merken, dass „Hamburg” unseren Gesprächspartnern nicht viel zu sagen scheint, fangen wir an zu erzählen – vom Hamburger Hafen, von der Alster, der Elbe und vom Meer…
Die jungen Afghanen lauschen den Übersetzungen ihres älteren Verwandten und stellen immer neue Fragen. Nach einer Weile verlieren sie ihre Scheu und setzen sich ebenfalls auf die Bank, und bald sind wir in eine angeregte, mehrsprachige Unterhaltung vertieft.
Schließlich ist der Tee in unseren Gläsern soweit abgekühlt, dass wir ihn trinken können. Der ältere Afghane sagt etwas zu den Jüngeren – vielleicht, dass sie sich um den von uns bestellten Reis kümmern sollen? – und sie stehen gerade auf, als eine Gruppe lachender und wild durcheinander rufender, schwarzhaariger Männer in den Hof stürmt.
Es sind keine Einheimischen, denn sie haben abgetragen Jeans mit bunten Flicken darauf an. Und sie sprechen, wie ich bei genauerem Hinhören feststelle, Spanisch.
Daneben aber auch die Landessprache – zumindest so viel davon, dass es für eine überschwängliche Begrüßung der Hoteliers-Familie reicht. Deren jüngere Mitglieder werden umarmt und auf die Schulter geklopft, und sie lachen mit den Spaniern.
Drei der Neuankömmlinge verschwinden im Hotel, die anderen beiden lassen sich am Nebentisch nieder und fangen an zu streiten. Jedenfalls kommt mir das so vor – erst als einer der Beiden in Gelächter ausbricht und der andere einstimmt, merke ich, dass es sich bloß um ein temperamentvolles, von lautstarken Flüchen untermaltes Gespräch handelt.
Über mein Teeglas hinweg mustere ich die Zwei verstohlen.
Der eine trägt seine Haare stoppelkurz und ist glatt rasiert, der andere, der mir gegenüber sitzt, hat schulterlange, von einem bunten Stirnband gebändigte Locken und einen sorgfältig gestutzten Vollbart. Seine Augen funkeln, der Mann sprüht förmlich vor Energie und guter Laune. Er sieht geradezu unverschämt gut aus, finde ich.
Leider habe ich mit bildschönen Männer bislang nur schlechte Erfahrungen gemacht. Sie sind mir vor allem wegen ihrer Arroganz und Selbstverliebtheit in Erinnerung geblieben, und oft genug waren sie dazu auch noch dämlich.
Da unser Reis auf sich warten lässt, geht Inge in unser Zimmer, um ihr Luftpost-Briefpapier zu holen. Ich suche unterdessen in meiner Tasche nach der Schachtel amerikanischer Zigaretten, die ich vorhin gekauft habe. Nicht nur mein Appetit, sondern auch mein Schmachter ist zurückgekehrt, was ich als Zeichen dafür werte, dass die Durchfallerkrankung endgültig überwunden ist.
Als ich nach dem Anzünden einer Zigarette aufblicke, – nach der mehrtägigen Abstinenz schmeckt sie nicht besonders, aber das Nervengift Nikotin hat eine unmittelbar entspannende Wirkung – sehe ich direkt in die dunklen, von beneidenswert langen Wimpern umrahmten Augen des schönen Spaniers.
Er bittet mich um eine Zigarette, die ich ihm natürlich nicht verweigere. Als ich den sehnsüchtigen Blick seines Freundes am Nebentisch sehe, biete ich ihm ebenfalls eine an, und drei Sekunden später sitzen die Beiden mir gegenüber und ziehen an ihren Glimmstengeln.
„I did not schmock for many, many days,” sagt der Langhaarige mit einem genießerischen Seufzen.
Er hat einen ausgeprägten, harten Akzent, und ich merke schnell, dass sein englischer Wortschatz nicht gerade groß ist. Dafür spricht er gut Französisch – leider habe ich die Französisch-Vokabeln in der Schule immer nur (am Tag vor der Klausur) im Kurzzeitgedächtnis gespeichert.
Sein Name sei Enrique, sagt er, und sein Freund heiße Carlos. Trotz seines phantastischen Aussehens ist er überhaupt nicht arrogant oder selbstverliebt. Und blöd erst recht nicht.
Inge kommt zurück, kurz darauf auch die drei Freunde von Enrique und Carlos.
Zwei von ihnen sind ebenfalls Spanier, der Dritte kommt aus Argentiniern, erfahren wir von Carlos, der am besten Englisch spricht und deshalb die Vorstellung übernimmt.
Als ich sehe, dass Enrique und Carlos ihre halb aufgerauchten Zigaretten an ihre Freunde weiterreichen, biete ich auch den Anderen welche an.
Der Argentinier ist Nichtraucher und fragt schüchtern, ob er stattdessen ein Glas Tee bekommen könnte. Der Tee sei „frío”, kalt, erkläre ich ihm. (1975 – auf der Durchreise nach Portugal – hat sich mir dieses spanische Wort eingeprägt, es stand über dem Wasserhahn einer Campingplatz-Dusche, unter der ich eines Morgens unerwartet schnell wach wurde…) Obwohl der Argentinier mir verständlich zu machen versucht, dass es ihm überhaupt nichts ausmache, kalten Tee zu trinken, gehe ich zur Hotelküche hinüber und bestelle noch eine Kanne Tee und weitere Gläser für die Fünf.
Als ich zum Tisch zurück komme, haben sie gerade begonnen, auf Spanisch, Englisch, und Französisch (untermalt von ausdrucksvollen Grimassen und Gesten) die abenteuerliche Geschichte ihrer Reise bis Kabul zu erzählen.
Und das ist sie, ihre Geschichte:
Die vier Spanier, der Argentinier und dazu noch zwei Franzosen (mit denen zusammen sie derzeit einen Schlafsaal des „Koochie Hotels” bewohnen) sind Künstler – fünf Musiker, ein Fotograf und ein Filmemacher.
Einer der Franzosen besitzt einen ausgebauten Reisebus, den sie im Frühjahr ‘77 mit ihren Musikinstrumenten, der Anlage, Foto- und Filmausrüstung und ihrem Gepäck beladen, um damit gen Osten, dem Sonnenaufgang entgegen zu fahren. Ihr Plan ist es, ihre Reise mit Konzerten zu finanzieren, die sie unterwegs geben. Außerdem sollen die Konzerte fotografisch und filmisch dokumentiert werden, und sie haben ihre gesamten Ersparnisse dabei, um in Indien und Nepal Textilien, Schmuck und Kunsthandwerk einzukaufen. Nach ihrer Rückkehr hoffen sie damit – und mit dem Fotoband und dem Dokumentarfilm – genügend Geld für die Finanzierung weiterer Reisen verdienen zu können.
Es finden tatsächlich einige Konzerte statt, in Italien, an der jugoslawischen Adriaküste und in der Türkei. Dort veranstalten sie einmal sogar eine Jam Session mit einheimischen Musikern, die bis in die Morgenstunden dauert und während der Enrique, wie er mit leuchtenden Augen berichtet, so lange und so „loco” (verrückt) Gitarre spielt, dass am Ende seine Fingerkuppen bluten.
Sie kommen bis nach Herat.
Am ersten Abend sind sie allesamt so bekifft, dass sie in den engen Kojen ihres am Stadtrand geparkten Busses eindösen, ohne vorher das Licht zu löschen.
Dieses Licht ist, man mag es kaum glauben, eine Petroleumlampe.
Man ahnt schon, was als Nächstes kommt: irgendwann in der Nacht wirft jemand die brennende Lampe um. Die Kunststoff-Innenverkleidung fängt sofort Feuer. Geschrei – Panik – gerade noch rechtzeitig springen die Sieben aus dem Bus. Dann explodieren Isoliermaterial und Tank.
Der Bus brennt vollständig aus.
Halb Herat ist auf den Beinen und bestaunt die turmhohen Flammen.
„And they don’t have any kind of fire department in Herat,” bemerkt Carlos mit einem schiefen Grinsen.
Ich kann mir trotz der schockierenden Story ein Schmunzeln nicht verkneifen. Wo sollte denn da auch das Wasser für einen Löschtrupp herkommen?
Alles, was ihnen nach der Katastrophe geblieben ist, sind die Sachen, die sie am Leibe getragen haben. Einer von ihnen hatte zufällig hundert Dollar in der Hosentasche, die er am nächsten Tag in Afghanis einwechseln wollte, aber der Rest ihres Geldes ist ebenso den Flammen zum Opfer gefallen wie ihre Pässe und Klamotten, die Musikinstrumente, Verstärker, Lautsprecherboxen, die Foto- und Filmausrüstung…
Am Morgen durchwühlen sie die warme Asche und finden einige noch brauchbare Kleinigkeiten wie beispielsweise Kameralinsen, die sie auf dem Bazar in Herat verkaufen können.
„And I found dis also. But I do not sell,” sagt Enrique ernst und greift in den Halsausschnitt seines zerschlissenen Hemdes.
Zum Vorschein kommt ein Lederband, auf das ein Metallschild aufgefädelt ist.
Er hält es mir hin, und ich beuge mich über den Tisch, um die Aufschrift zu lesen. In das Plättchen eingraviert ist die sechsstellige Seriennummer seiner verbrannten Gitarre, darunter steht ein geschwungenes „F” für „Fender”. Einen Moment lang meine ich eine Träne in Enriques Augen glitzern zu sehen, aber dann lacht er schon wieder über Carlos’ pantomimische Darstellung ihrer nächtlichen Flucht aus dem brennenden Bus.
In Herat versuchen sie zwei Wochen lang, von den lokalen Behörden irgendwelche „Ersatz-Papiere” zu kriegen, mit denen sie über die Grenze nach Teheran zurück wollen, wo es eine spanische Botschaft gibt. Vergeblich.
Also reisen sie nach Kabul weiter und bitten das französischen und das italienische Konsulat um Hilfe; eine diplomatische Vertretung Spaniens – oder gar Argentiniens – gibt es in der afghanischen Hauptstadt nämlich nicht. Auch das ist vergeblich. Nur die beiden Franzosen werden in den nächsten Tagen heim fliegen – sobald ihre Botschaft die Bestätigung hat, dass ihre Angehörigen die Tickets bezahlen.
Die Spanier und der Argentinier jedoch verbringen jeden Tag Stunden in verschiedenen afghanischen Ämtern, die sich mit schöner Regelmäßigkeit für nicht zuständig erklären und sie an die nächste Abteilung weiter reichen. Auch jetzt sind sie gerade wieder aus dem afghanischen Behördendschungel zurückgekehrt, und Guillermo, der Argentinier, äußert die Vermutung, dass sie längst irgendwelche Ersatz-Pässe hätten, stünden ihnen nur die in der hiesigen Bürokratie nun mal erforderlichen „Schmiermittel” zur Verfügung. Aber ihr weniges Geld ist mittlerweile fast vollständig aufgebraucht.
Inge fragt, wie sie denn ihre Unterkunft hier finanzieren.
„No problem,” gibt Carlos Auskunft – abgesehen von den beiden Franzosen, die in ihrer Botschaft etwas Geld erhalten hätten, würden sie für die Übernachtungen in dem von ihnen belegten Acht-Betten-Schlafsaal nichts bezahlen. Der Hotelbesitzer sei ein „very good man, very nice man”, sagt er, und winkt ihrem Wohltäter fröhlich zu, der gerade aus der Küchentür tritt.
Ihm folgen zwei der jungen Afghanen, von denen der eine ein Tablett mit Teekanne und Gläsern, der andere eins mit einer großen Schüssel und zwei Tellern trägt.
Unser Reis ist endlich gar.
Als wir uns die duftenden weißen Körner auffüllen, bemühen sich unsere neuen Freunde, nicht allzu hungrig auf unsere Teller zu starren.
Selbstverständlich bieten Inge und ich an, mit ihnen zu teilen, aber sie lehnen es beharrlich ab, sich ebenfalls Teller bringen zu lassen. Sie hätten vorhin auf dem Markt schon einige leicht angebrannte „Naan” (Fladenbrote) geschenkt bekommen, erklärt Enrique, und später würden sie wie jeden Tag zum Essen zu den „Children of God” gehen.
Auf unsere Nachfrage hin erklärt er Inge und mir, dass diese Organisation in Kabul eine Art Suppenküche betreibe, wo allabendlich kostenlose Mahlzeiten verteilt würden.
„They try to catch us,” meint Carlos, die „Kinder Gottes” würden während der Essensausgabe versuchen, neue Mitglieder für ihre Gemeinschaft zu werben.
„But they won’t get us.”
Er grinst und deutet mit einer kreiselnden Fingerbewegung neben der Schläfe an, für wie verrückt er die Mitglieder dieser aus den USA stammenden Sekte hält.
„We go there just for the food.”
„Tonight you come with us?” fragt mich Enrique.
Alle sind von der Idee begeistert und drängen uns, die Einladung anzunehmen.
„Wir müssen da ja nichts essen,” meint Inge, „aber angucken kann man sich das doch mal.”
Wir sagen also zu.
Den Abend mit dieser lustigen Bande zu verbringen, ist auf jeden Fall eine reizvolle Idee, auch wenn man das Glück hat, auf die mildtätigen Gaben dieser obskuren Glaubensgemeinschaft nicht angewiesen zu sein. Wir verabreden uns für sechs Uhr hier im Hof, und dann zerstreut sich unsere kleine Gesellschaft.
Inge und ich brechen zu einem Spaziergang auf, um endlich etwas von Kabul zu sehen.
Die Stadt liegt etwa 1.800 Meter hoch – was erklärt, warum es hier längst nicht so heiß ist wie etwa in Istanbul – und ist von noch höheren Bergen umgeben, an denen sich der äußere Ring von Stadtteilen emporzieht. Die Häuser und Hütten dieser Viertel kleben am Berg wie nachlässig ausgestreute Pappschachteln, und ich frage mich, ob es hier jemals heftige Regenfälle gibt. In Anbetracht der durch keinerlei Vegetation befestigten, von Steinschlag bedrohten kahlen Hänge wäre mir (als Bewohner eines dieser Häuser) dann nämlich ganz schön mulmig.
Als Inge und ich den Kabul River erreichen, wird klar, warum Wasser hier ein so kostbares Gut und gegenwärtig alles von einer Staubschicht bedeckt ist. Bis auf ein dünnes Rinnsal und ein paar Pfützen ist der Fluss ausgetrocknet, und das ist er wohl auch schon seit einer ganzen Weile. Die Hirten, die ihre Ziegen und Schafe im Flussbett weiden lassen, machen jedenfalls nicht den Eindruck, als hätten sie gerade erst damit begonnen.
So interessant die Ansichten der Stadt auch sind, unsere Unterhaltung dreht sich hauptsächlich um „die Spanier” (Guillermo zählen wir der Einfachheit halber dazu).
Inge und ich sind fasziniert von der Zuversicht und guten Laune, die sie verbreiten – obwohl sie gerade ihre gesamte Habe verloren haben, ohne Geld in dieser fremden Stadt festsitzen und am Ende vermutlich froh sein müssen, wenn sie es irgendwie wieder nach Hause schaffen. Dabei wollten sie doch bis nach Nepal reisen, so wie wir!
„Verglichen mit den Problemen, mit denen sich diese Jungs herumschlagen müssen, ist eine dreitägige „Kabulitis” doch bloß eine kleine Unannehmlichkeit,” meine ich und schäme mich nachträglich ein wenig für mein Selbstmitleid und Gejammer in den zurückliegenden Tagen und Nächten.
„Das ist jetzt leicht gesagt, wenn es einem wieder gut geht. Aber vorgestern habe mich wirklich todsterbenselend gefühlt.” widerspricht Inge.
„Außerdem kann ich mir vorstellen, dass die Spanier einen großen Teil ihrer Kraft aus dem Umstand schöpfen, dass sie so gesund und munter sind. Schließlich sind sie dem Tod nur ganz knapp von der Schippe gesprungen, da weiß man genau das bestimmt sehr zu schätzen!”
„Du hast recht,” stimme ich ihr zu.
„Enrique hat es selbst gesagt – ‘No bus, no money, no passport – but no problem. We live!’ Das Wichtigste ist doch wirklich, am Leben zu sein.”
Meine Freundin grinst.
„Der hat es dir angetan, der Lockenkopf, was?”
„Ja, ich finde ihn hinreißend,” gebe ich zu.
„Mir gefällt Carlos besser, weil man sich mit dem so toll unterhalten kann,” erklärt Inge – was mir hervorragend in den Kram passt.
Auf dem Rückweg kommt uns die Idee, etwas zu essen einzukaufen.
Da die Spanier zu stolz waren, sich zum Reis einladen zu lassen, werden wir ihnen eben Fladenbrote anbieten, wenn wir das nächste Mal beim Chai zusammensitzen.
Außerdem kaufen wir von einem fast zahnlosen Händler noch Tomaten und Zwiebeln. Für die paar Afghanis, die wir ihm geben, schüttet er so viele Zwiebeln in Inges Beutel, dass wir damit wochenlang auskommen würden. Am Karren daneben erstehen wir vier Granatäpfel, die verglichen mit den Zwiebeln aber relativ teuer sind.
Danach gehen wir noch bei dem Hotel vorbei, in dessen Garten der 608 parkt. Rolf und Catherine sitzen davor, zusammen mit einem Pärchen aus Berlin, die nebenan in einem zum Wohnmobil umgebauten Ford Transit campieren.
„Ah – die beiden jungen Damen sind wieder genesen!” ruft Rolf erfreut, als er uns sieht.
„Dann seht ihr ja doch noch was von Kabul – nicht nur immer dasselbe Hotel-Klo…”
Wir berichten kurz, wie es uns ergangen ist, und dass wir jetzt im „Koochie Hotel” in der Chicken Street untergekommen sind. Unser Fahrer teilt uns mit, dass er Kabul übermorgen früh um 10 Uhr verlassen will.
Der Treffpunkt wird vor „Sigis Restaurant” sein, dem legendenumrankten Kabuler Äquivalent zum „Pudding Shop” in Istanbul oder zum „Amir Kabir” in Teheran.
„Im „Sigis” gehen wir heute Abend übrigens essen, kommt doch auch,” schlägt Catherine vor.
„Sie haben da eine wirklich gute und günstige Küche – der Reispudding ist zu Recht so berühmt.”
„Nee, geht leider nicht,” sagt Inge bedauernd.
„Wir sind schon zum Essen verabredet – in der Suppenküche der „Kinder Gottes””.
„Wie bitte?” Catherine starrt uns entsetzt an.
„Na ja, wir haben da so ein paar Spanier kennen gelernt, die sind total abgebrannt, und die gehen da immer essen,” versuche ich zu erklären.
„Sie haben uns eingeladen, sie zu begleiten.”
„Die sind wirklich abgebrannt, im wahrsten Sinne des Wortes,” fügt Inge amüsiert hinzu.
„Bei diesen Sektenfuzzis schmeckt das Essen bestimmt nicht,” verkündet Rolf im Brustton der Überzeugung.
„Hoffentlich ist eure Begleitung wenigstens nett genug, um das wettzumachen.”
„Ach doch, ja, die sind ganz unterhaltsam,” meine ich, und Inge grinst mich an.
In unserem Zimmer verstauen wir die gekauften Lebensmittel insektensicher in fest zugeknoteten Beuteln, die wir in meinen Koffer einschließen, und machen uns für unser „Date” zurecht.
Unsere fünf Kavaliere sitzen schon im Hof, zusammen mit den Afghanen vom Hotel, und springen auf, als wir herauskommen.
„Buenos noches, Señores,” sage ich lächelnd, und die Señores strahlen und reden alle gleichzeitig. Schließlich gelingt es Carlos, die anderen zu übertönen. Er verbeugt sich schwungvoll vor Inge und mir und sagt dann:
„Let’s go!”
„Ach du heilige Scheiße,” stößt Inge hervor, als wir nach einem längerem Fußmarsch ein paar Stufen hinuntersteigen und in der Suppenküche der „Children of God” angekommen sind.
Der Raum ist düster und schmutzig, nur von ein paar nackten Glühbirnen erleuchtet und mit niedrigen Tischen und Bänken aus geschwärztem Holz möbliert. An der hinteren Wand befindet sich ein höherer Tisch, hinter dem zwei Frauen mit langen, glatten Haaren und knöchellangen Kleidern aus großen Aluminiumtöpfen Portionen einer grauen Masse abfüllen.
Die Bewegungen der älteren, sehr hageren Frau sind langsam und kraftlos, als ob sie krank ist oder unter dem Einfluss starker Beruhigungsmittel steht. Die Jüngere – sie scheint sehr jung zu sein, höchstens achtzehn Jahre – macht mit ihren blonden Haaren und roten Apfelbäckchen zwar einen gesünderen Eindruck, kommt mir aber auch irgendwie weggetreten vor – ihr Blick schweift in die Ferne, und ihr Dauerlächeln wirkt reichlich mechanisch.
Links und recht von der Essensausgabe stehen zwei kräftige junge Männer in gebügelten Hosen und Hemden, die aufgrund ihres Zahnpasta-Lächelns ebenfalls eindeutig als Sektenmitglieder zu identifizieren sind und sich wacker bemühen, trotz ihrer offensichtlichen Bodyguard-Funktion einen gütig-milden Eindruck zu machen.
Ein Dritter sitzt mitten im Raum auf einem Hocker, den man auf eine große Holzkiste gestellt hat, bearbeitet hingebungsvoll eine Gitarre und singt dazu mit nicht schöner, aber lauter Stimme fromme Lieder. Da er nuschelt und einen furchtbaren Slang hat, verstehe ich von den Texten (außer den häufig vorkommenden Worten „god”, „holy” und „grace”…) allerdings nicht viel.
Meiner Meinung nach sind die Gäste, die die milde Gabe aus dem Suppentopf herunterwürgen oder wie gelähmt dasitzen und in ihre Blechnäpfe starren, nahezu ausnahmslos Junkies. Abgemagerte, verdreckte Gestalten mit offenen Wunden, neben denen beinahe schon der Sensenmann sichtbar ist, der sie voraussichtlich in nächster Zukunft auf ihren letzten Trip begleiten wird.
Dies ist ein deprimierender Ort, an dem sich fast nur unglückliche Menschen aufzuhalten scheinen.
Umso beeindruckende finde ich, dass sich die Spanier nicht einmal von dieser Atmosphäre die gute Laune verderben lassen.
Sie schwatzen munter weiter, während sie sich in die kleine Schlange bei der Essensausgabe einreihen.
Inge und ich beteuern, überhaupt nicht hungrig zu sein, und setzen uns schon mal an einen freien Tisch vor der „Bühne”. Als unsere Freunde zurückkehren, stellt sich heraus, dass das nicht einmal eine Lüge ist – spätestens nach einem Blick in ihre Näpfe vergeht uns nämlich wirklich jeder Appetit.
Die Kinder Gottes servieren heute eine Art zerkochte Graupen mit bräunlichen und grünen Schlieren darin, die wohl einen Vitamin-Anteil vortäuschen sollen.
Wäre ich auf der Suche nach einer spirituellen Heimat in irgendeiner Glaubensgemeinschaft, dann hätte dieser Verein sich mit dieser Armenspeisung soeben auf den allerletzten Platz der Kandidatenliste katapultiert. Wer in einer Gegend, in der man Grundnahrungsmittel wie Zwiebeln, Kartoffeln oder Hülsenfrüchte fast geschenkt kriegt, einen solchen Fraß an Bedürftige verteilt, muss eine sonderbare Vorstellung von „Nächstenliebe” haben.
Ich bin sicher, dass die Gotteskinder dieses Zeugs nicht selber essen.
Während unsere Begleiter tapfer die graue Pampe zu löffeln beginnen, fragt mich Inge, was ich über die „Children of God” wüsste.
„Nicht viel…” Ich überlege.
„Einmal hat mich einer von denen in einer U‑Bahn-Station angequatscht. Der grinste auch pausenlos, als hätte er irgendwelche Glückspillen intus – so, wie das Mädchen da drüben. Er wollte mich überreden, zu einer ihrer Versammlungen zu kommen. War ausgesprochen hartnäckig, der Kerl; ich musste richtig unhöflich werden, um ihn loszuwerden.”
„Er hat mir ein Heftchen aufgedrängt,” fällt mir dann noch ein, „das ich aber nur durchgeblättert und beim Aussteigen in den nächsten Mülleimer geschmissen habe. Ich weiß nur noch, dass da unter anderem auch Vorschriften vom Sektenchef drin standen, was seine Jünger beim Sex tun und lassen sollen. Das fand ich echt krank.”
Inge nickt.
„Ich hab mal gehört, dass die Frauen von denen auf Befehl ihres Gurus mit fremden Männern schlafen müssen, um die für eine Mitgliedschaft zu gewinnen. Diese Frauen werden praktisch gezwungen, sich zu prostituieren, und die Organisation fungiert als Zuhälter. Neue Mitglieder müssen nämlich ihren gesamten Besitz der Sekte überschreiben.”
Ich versuche, das Bild, das vor meinem inneren Auge aufgetaucht ist – die kleine Blonde, die sich auf einer verdreckten Matratze einem Junkie hingibt – wieder aus meinem Bewusstsein zu drängen.
„Das ist ja ekelhaft!”
Enrique, der neben mir Platz genommen hat, scheint nach wenigen Löffeln der Graupenpampe auch keinen Hunger mehr zu haben. Meinen mitfühlenden Blick beantwortet er mit einem Achselzucken und einem schiefen Lächeln – das zu einer gequälten Grimasse gerinnt, als der nervtötende Troubadix neben uns ein frommes Lied in einem schrillen Missklang enden lässt.
„Beim Singen und Musizieren sind sie offenbar genau so talentfrei wie beim Kochen,” bemerkt Inge spitz.
Enrique blickt sehnsüchtig auf die Gitarre des Möchtegern-Musikus.
Als der seine Finger über die Saiten seines Instruments gleiten lässt, um sich auf seinen nächsten Vortrag einzustimmen, spricht er ihn an:
„Pardon,” er deutet auf die Gitarre, „may I …? For only five minutos?”
Der Angesprochene glotzt ausdruckslos auf ihn herab und gibt keine Antwort. Da ich annehme, dass er das etwas eigenwillige Englisch des Spaniers nicht verstanden hat, schalte ich mich ein.
„My friend is a musician, who has lost his guitar,” erkläre ich ihm freundlich lächelnd, „and he wants to borrow yours – just for a little while…”
Der Gitarren-Eigentümer runzelt seine Brauen und packt sein Instrument fester, als befürchte er, wir würden es ihm im nächsten Augenblick entreißen und irgendetwas Schreckliches damit anstellen.
„No,” sagt er dann, und stimmt das nächste Lied an.
Inzwischen haben alle aufgehört zu essen, und wir erheben uns, um diesen Ort zu verlassen.
„God bless you for your generosity,” Gott segne dich für deine Großzügigkeit, sage ich im Hinausgehen zu dem talentfreien Alleinunterhalter.
Doch ich ernte nur denselben leeren Blick wie Enrique, als er sich die Gitarre ausleihen wollte. Vielleicht versteht der Typ ja kein Englisch. Oder keine Ironie.
Oder aber er hört einfach sehr schlecht – das würde die Qualität seiner musikalischen Darbietung erklären.
Mit den Spaniern durchs abendliche Kabul zu flanieren, macht richtig Spaß.
Auf die diversen Offerten geschäftstüchtiger Afghanen reagieren unsere Begleiter, indem sie ihrerseits alles anpreisen, was sie bei sich tragen. Und da sie die fürs Feilschen nötigen Zahlen und Redewendungen in der Landessprache beherrschen, spielen viele Afghanen begeistert mit. In der Chicken Street schließlich scheint jeder die Spanier zu kennen; man begrüßt sich unter Gejohle und Gelächter.
Guillermo und Carlos unterhalten sich mit einem jungen Paschtunen und reden dann sehr schnell auf Enrique ein. Der schüttelt den Kopf, und eine hitzige, mit Kraftausdrücken gespickte Debatte entbrennt. Die Stimmen der Beiden klingen immer drängender, beinahe bettelnd, aber Enrique bleibt hart.
Als Carlos meinen neugierigen Blick auffängt, erklärt er Inge und mir, dass der junge Mann ihnen Haschisch angeboten habe („he sells the best charas in town, we tried it before!”). Doch Enrique, der von der Gruppe mit der Verwaltung ihres letzten Geldes beauftragt worden ist, weigere sich beharrlich, dafür ein paar Afghanis herauszurücken.
In gespielter Verzweiflung verdreht Carlos seine Augen himmelwärts und meint, dass sie ja selber Schuld seien. Schließlich hätten sie aus genau diesem Grund Enrique die Kasse anvertraut – weil er ein „bloody pighead”, ein verdammter Dickschädel sei.
Der so Beschriebene steht daneben und versucht mitzukriegen, was Carlos erzählt, aber an seinem verunsichert zwischen uns hin und her irrenden Blick ist zu erkennen, dass er außer seinem eigenen Namen nicht viel versteht. Den Ausdruck „pighead” scheint er allerdings zu kennen, denn als das Wort fällt, blitzen seine Augen, und er überschüttet Carlos mit einem Redeschwall, aus dem ich mehrfach „puta madre” heraushöre.
Ich beschließe, das Problem zu lösen, bevor die Beiden sich richtig in die Haare kriegen, und bitte Carlos, etwas Charas für mich zu kaufen. Er sieht mich an, als würde er mir am liebsten um den Hals fallen, und erwirbt für die zweihundert Afghanis (etwa zwölf Mark), die ich ihm in die Hand drücke, einen Brocken von beachtlichen Ausmaßen.
An einem noch geöffneten Stand besorge ich derweil Zigarettenpapier und zwei Packungen Zigaretten. Die am Mittag gekaufte Schachtel ist, mit Unterstützung der Spanier, bereits zur Hälfte geleert.
Im Hotel angekommen, bestellen Inge und ich gleich zwei große Kannen Tee.
Da im Hof bereits alle Lichter gelöscht sind und es so aussieht, als wolle das Personal sich demnächst zur Ruhe begeben, laden wir die Spanier in unser Zimmer ein. Sie folgen uns mit den Tee-Tabletts, und das Gemurmel und Gekicher hinter uns im dunklen Flur erinnert mich irgendwie an die Klassenreisen früher, wenn die Jungs uns nachts im Mädchenschlafsaal besuchen kamen.
Bei Kerzenschein ist es in dem Raum richtig gemütlich.
Carlos fängt an, einen Joint zu bauen, und Inge und ich breiten die Fladenbrote, Tomaten, Zwiebeln, Granatäpfel und die Kekspackungen auf dem Tisch aus.
Bei unseren Gästen ist die Freude groß – offensichtlich ist keiner von ihnen bei den „Kindern Gottes” satt geworden. Sie spülen die Tomaten im Waschbecken ab und schneiden sie mit Inges Taschenmesser und meinem Dolch aus Herat in kleine Würfel, ebenso die geschälten Zwiebeln. Dann werden die Fladenbrote mit dem Tomaten-Zwiebel-Gemisch gefüllt und ergeben ein simples, aber ungemein schmackhaftes Abendessen, das auch Inge und ich mit Hochgenuss verspeisen.
„Tolle Sache, so ein spanischer Leibkoch – und wir haben gleich fünf…” flachst Inge.
„Mmmh,” antworte ich mit vollem Mund und beobachte interessiert, wie Enrique die mit rotem Fruchtfleisch ummantelten Kerne eines Granatapfels mit einem Teelöffel aus der Schale löst und auf dem blank geputzten Tablett auftürmt.
Er greift zur nächsten Frucht, und ich frage Inge, ob sie schon mal Granatapfel gegessen hat. Sie verneint.
„Ich auch nicht,” sage ich. „Sehen aber toll aus, die Dinger. Irgendwie erotisch.”
Inge lacht. „Bist du sicher, dass du die Frucht meinst?”
Enriques Blick trifft sich mit meinem, und er hält mir eine Handvoll Kern hin.
Ich probiere und bin entzückt: „Delicious!”
Der von Carlos gedrehte Joint geht herum, ein aus sechs oder sieben Blättchen zusammengefügtes Prachtexemplar, das gleichmäßig herunterbrennt und den Raum mit dem herbsüß-harzigen Geruch des „schwarzen Afghanen” füllt.
Nach dem ersten Zug spüre ich, wie sich wieder mal meine Nackenhaare aufstellen, aber mittlerweile habe ich mich schon etwas an dieses Gefühl gewöhnt.
Und es gibt ja auch nichts, was mich davon abhält, den Rausch zu genießen, nichts, worüber ich mir Sorgen machen müsste: ich sitze entspannt auf meinem eigenen Bett, und sollte ich müde werden, brauche ich mich nur zur Seite fallen lassen. Umgeben bin ich von freundlichen, gut gelaunten Menschen, mit denen ich mich großartig verstehe – auch wenn ich kein Spanisch spreche und sie (abgesehen von Carlos) kaum Englisch. In gewisser Hinsicht ist das sogar ein Vorteil, denn die lebhaften Grimassen, Gesten und pantomimischen Vorführungen, mittels derer wir uns hauptsächlich verständigen, haben einen viel größeren Unterhaltungswert als Erzählungen „nur” mit Worten.
Nach ein, zwei Stunden schmerzt meine Bauchmuskulatur. Ich habe seit Monaten nicht mehr so viel gelacht.
Enrique und Carlos sind eindeutig diejenigen, die dafür sorgen, das keiner aus der Gruppe den Mut oder die Hoffnung verliert. Wieder und wieder erinnern sie die anderen daran, was für ein Glück sie doch hätten, am Leben zu sein – und dass sie, sollten sie es diesmal nicht bis nach Indien und Nepal schaffen, einfach eines Tages wieder losfahren werden. Puta madre!
Ich fände ihre Lebensfreude bewundernswert, erkläre ich Carlos, und er zuckt die Achseln und sagt, dass er gar nicht anders könne als glücklich zu sein – soviel Güte und Großzügigkeit seien ihnen begegnet, seit sie in Herat ihre ganze Habe verloren haben. Afghanen, die selbst kaum etwas besaßen, haben sie eingeladen, mit ihnen zu essen, sie durften ohne Fahrschein im Bus nach Kabul mitfahren, im Hotel lässt man sie umsonst übernachten, ständig bekämen sie etwas geschenkt. Und heute waren es Inge und ich, die mit „chai, dinner and charas for free” ihren Tag verschönert haben!
Mit aufmerksamen Blick hat Enrique unser Gespräch verfolgt und nickt nun zustimmend.
„Por de chätte,” meint er und tippt sich gegen die Wange, „is allways better. It’s de best.”
Ich ziehe Augenbrauen und Schultern hoch zum Zeichen, dass ich ihn nicht verstanden habe.
„Por de chätt,” wiederholt er, tippt sich wieder gegen die Wange und lässt seinen Zeigefinger dann um sein Gesicht kreisen.
„Is de best.”
Als ich immer noch verständnislos gucke, sagt er es noch einmal.
„Por de chätt,” wieder ein Antippen der Wange, und dann fügt er hinzu:
„Free. Por free is allways de best!”
Endlich fällt bei mir der Groschen — „chätt” soll „head” heißen.
Aus dem Deutschen kenne ich ja den Spruch „nur um deiner schönen Augen willen”, wenn man etwas geschenkt bekommt (beziehungsweise geschenkt bekommen möchte), wofür man normalerweise Geld bezahlen muss. Anscheinend gibt es im Spanischen eine ähnliche Redewendung, in der eine Formulierung wie „für deinen Kopf” – oder vielleicht auch „um deines (hübschen) Gesichtes willen”? – die Bedeutung von „gratis, umsonst” hat.
„Yes, for free is allways the best,” wiederhole ich und lache ihn verliebt an.
Irgendwann werden Enriques und Carlos’ Freunde immer stiller, fangen an zu gähnen, wünschen uns noch einen schönen Abend und verlassen das Zimmer, um in ihren Schlafsaal hinüber zu gehen.
Wir bleiben zu viert zurück, und die Atmosphäre ist immer noch angenehm, aber deutlich anders.
Enrique sitzt, an mein Bett gelehnt, auf dem Fußboden, Carlos hat auf dem leeren Bett neben dem von Inge Platz genommen, und das wilde Durcheinander-Geschnatter ist mit verhaltenen Stimmen geführten Gesprächen gewichen.
Carlos muss immer seltener etwas übersetzen, denn ich stelle fest, dass ich Enriques Französisch zunehmend besser verstehe. Zwar habe ich große Schwierigkeiten, mich in dieser Sprache auszudrücken, weil mir so viele Vokabeln entfallen sind – aber wenn ich ihm zuhöre, fällt mir die Bedeutung der meisten Worte wieder ein.
Nach und nach verstummen unsere gedämpften Dialoge, und eine eigenartige, „laute” Stille, in der ich fast unsere Gedanken zu hören glaube, breitet sich im Raum aus.
Carlos trifft schließlich die Entscheidung, sie zu brechen; er springt auf und verkündet, er werde jetzt schlafen gehen. Auch Enrique erhebt sich.
„Buenos noches, Pola,” sagt er leise und hält mir seine Hand hin.
Als ich sie ergreife, verspüre ich große Lust, ihn einfach zu mir aufs Bett herunter zu zerren und zu küssen, aber schon Sekundenbruchteile später siegen meine Bedenken über die Raubkatze in mir. Ich lasse seine Hand wieder los und wünsche ihm und Carlos ebenfalls eine gute Nacht.
Als sie das Zimmer verlassen haben, seufzt Inge und spricht aus, was wir beide denken:
„Schade, dass die Zwei nicht auch ein Doppelzimmer haben!”
„Ja, dann hätte einer von ihnen hier bleiben können, und eine von uns wäre mit rüber gegangen.”
Ich seufze ebenfalls.
„Was soll’s – mit Enrique im Bett, in einem Schlafsaal, in dem noch sechs andere junge Kerle herumliegen und die Ohren spitzen, entspricht nun wirklich nicht meiner Vorstellung von einer heißen Liebesnacht…”
„Puh, nein, die Vorstellung reizt mich genauso wenig,” stimmt Inge zu.
„Und ich denke auch nicht, dass Carlos und Enrique sich so etwas wünschen. Diese Spanier kommen mir trotz ihrer heißblütigen Art eher schüchtern vor. Vermutlich ist das die erzkatholische Sozialisation – die streift man bestimmt nicht einfach so ab, indem man ein paar Jahre lang in einer Rockband spielt und kifft.”
„Wir sind nicht katholisch, aber wir trauen uns auch nix,” wende ich ein, „wir hätten sie ja beispielsweise einladen können, hier bei uns zu übernachten – ich glaube nicht, dass sie nein gesagt hätten, katholische Erziehung hin oder her. Beinahe hätte ich es dir vorgeschlagen, dann fand ich die Idee doch bescheuert.”
„Einen Moment lang habe ich auch daran gedacht,” gesteht Inge, „aber das hätte im Fiasko geendet, da bin ich sicher. Versteh’ das bitte nicht falsch, ich mag dich wirklich gern — aber beim Sex möchte ich dich nun mal nicht dabei haben…”
„Da geht es mir genau so wie dir,” lache ich.
Ich kuschel’ mich in meinen Schlafsack, aber obwohl ich sehr erschöpft bin von diesem langen Tag – dem ersten, an dem wir wieder „auf den Beinen” waren – finde ich lange keinen Schlaf. Zu viel geistert mir im Kopf herum, und immer wieder sehe ich das Lachen und die dunklen Augen des Spaniers vor mir.