Obwohl wir auch im Iran schon Wüstengebiete durchquert haben, habe ich das Lebensfeindliche – und zugleich doch ungeheuer Faszinierende – dieser Landschaft noch nie so stark empfunden wie hier, irgendwo auf der „Ring Road” zwischen Herat und Kandahar.
Ich liege auf der großen Matratze hinten im Bus, und die brütende Hitze und der Anblick der sandfarbenen Einöde versetzen mich in einen Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen.
Meine Zunge klebt am Gaumen, obwohl ich meinen Trinkbecher vor nicht einmal zehn Minuten am Wasserkanister gefüllt und gierig geleert habe.
Ich verbiete mir, ihn schon wieder aufzufüllen, denn ich will nicht diejenige sein, wegen der nächste „Pinkel-Pause” eingelegt werden muss. Rolf hält ungern und nur unter halblautem Genörgel auf freier Strecke an; deshalb warten alle Passagiere lieber ab, bis der von unserem Fahrer massenhaft konsumierte Kaffee ihn zu einem Stopp zwingt.
Ich starre mit müden Augen in eine staubige Leere unter einer erbarmungslos sengenden Sonne.
Meine Kehle fühlt sich wund und ausgetrocknet an, und auch der Rest von mir scheint langsam zu verdorren. Mein Bewusstsein löst sich von meinem Körper und schwebt hinaus in die flirrende Luft über der Wüste…
Am Abend werde ich in mein Reisetagebuch schreiben:
Wo bin ICH? Verloren. Irgendetwas bäumt sich auf
in namenloser Panik.
Warum habe ich Angst, es gibt doch Liebe…
Dann: die Rückkehr. Rückkehr von wo?
Wenn du einen Bumerang über den Horizont hinweg schleuderst,
kommt nicht derselbe Bumerang zurück.
Neugeborene sind die Meister des Zen.
Aufgeregte Ausrufe meiner Mitreisenden wecken mich.
„Sowas hab’ ich ja noch nie gesehen,” höre ich Rolf mit erstaunter Stimme sagen.
Ich greife nach meiner Brille und setze mich auf, und was ich draußen sehe, entlockt auch mir ein verblüfftes „Wow!”
Die Wüste blüht.
Zwischen Sand und Steinen sind wie aus dem Nichts breite Streifen niedriger Flechten aufgetaucht, die fast nur aus pinkfarbenen Blüten bestehen.
Ihre knallige Farbe wirkt in dieser bislang von staubigen Ocker- und Brauntönen dominierten Gegend dermaßen unwirklich, dass ich mich in den Arm zwicke, um sicher zu sein, dass ich tatsächlich wach bin.
Jetzt hält Rolf endlich an.
Alles stürzt aus dem 608, um das Naturwunder näher in Augenschein zu nehmen.
Es muss hier kürzlich geregnet haben, was, wie Rolf uns versichert, nur sehr, sehr selten vorkommt. Die sandige Erde ist jetzt auch schon wieder ganz fest und ausgetrocknet.
Offenbar konnte das Regenwasser in diesem von der Sonne „hart gebackenen” Boden nicht gleich versickern und hat sich an den tieferen Stellen gesammelt. Dort, wo sich die Feuchtigkeit am längsten gehalten hat, sind dann in Windeseile diese kleinen Pflänzchen erblüht.
Wir nutzen den Halt, um ebenfalls „die Wüste zu begießen”, wie Ulli es ausdrückt, und Catherine pflückt ein paar der blühenden Zweiglein.
Als es weitergeht, fühle ich mich einigermaßen ausgeruht und erfrischt, obwohl ich höchstens eine Stunde geschlafen und nur einen Becher Wasser getrunken habe.
Leider gibt es nun wieder mehrere Stunden lang nichts Aufregendes mehr zu sehen, abgesehen von zwei oder drei mit farbenfrohen Blumen und Schriftzeichen bemalten afghanischen Trucks.
Bei den verschlungenen Schriftzeichen der Bemalung handelt es sich wohl um fromme Sprüche und Segenswünsche, die die Trucks, ihre Fracht und die Fahrer vor Unheil bewahren sollen, denke ich.
Zumindest fände ich das sehr sinnvoll – nachdem ich gesehen habe, in welchem halsbrecherischen Tempo die bunten Fahrzeuge über die Piste holpern.
Als wir einige sandfarbene Gebäude passieren, frage ich mich, ob die wohl bewohnt sind – und wenn ja, wovon ihre Bewohner leben mögen. Weit und breit sind nämlich weder Pflanzen noch Tiere zu entdecken; nicht einmal trockenes Gestrüpp wächst hier.
Eine halbe Stunde später erreichen wir jedoch eine Oase, die uns (wie schon die rosa Wüstenblumen) anschaulich vorführt, wie etwas Wasser diese unwirtliche Öde in einen kleinen Garten Eden verwandeln kann. Die von einer Lehmmauer umschlossene Vegetations-Insel strotzt nur so vor Grün.
Hinter einer Kurve bremst Rolf scharf ab, weil eine Horde Ziegen die Straße überquert.
Die Eigentümer der Tiere stehen neben ihren Kamelen am Straßenrand und mustern uns ebenso interessiert wie wir sie.
Es sind Kuchis, Nomaden, die mit ihren Tieren durch das ganze Land ziehen.
Die Männer tragen Turbane, Hosen und Jacken in gedeckten Farben, aber die weiten Hosen und bestickten Kleider der – unverschleierten – Frauen sind aus leuchtend farbigen und geblümten Stoffen.
Eine der Frauen zieht meine besondere Aufmerksamkeit auf sich, weil sie sehr groß ist und ihre stolze, sehr aufrechte Haltung mich an eine Flamenco-Tänzerin erinnert. Sie ist mit schweren, reich verzierten Silberketten und Ohrgehängen geschmückt; ihr Kopftuch ist auf ihre Schultern hinunter gerutscht, und einzelne Locken ihrer dunklen Haare haben sich aus dem dicken Zopf an ihrem Hinterkopf gelöst.
Als sich unsere Blicke begegnen, schaue ich gebannt in große, ernst blickende Augen von unerwarteter Farbe. Umrahmt von schwarzem Kajal, scheinen ihre ungewöhnlich hellen, blau-grünen Augen von innen heraus zu leuchten.
„Mein Gott, ist die schön!” sage ich zu Anna, die neben mir sitzt – leise, als könne mich die Kuchi-Frau draußen vor dem Bus verstehen.
Anna nickt.
„Ja, auch eine wunderschöne Wüstenblume…”
Wir erreichen Kandahar am frühen Abend.
Von der Stadt sehen wir nicht viel, da Rolf geradewegs das Hotel ansteuert, in dessen kleinen Hof er den Bus über Nacht abstellen will.
„Am besten, ihr nehmt euch gleich hier Zimmer. Das Hotel ist zwar ein ziemlicher Schuppen, aber was Besseres werdet ihr in dieser Ecke Kandahars kaum finden,” erklärt er.
„Außerdem will ich morgen nicht allzu spät wieder los.”
Inge und ich fragen an der „Rezeption” (die aus einem Paschtunen besteht, der sich von einem speckig glänzenden Sitzkissen neben der Eingangstür erhebt) nach einem Doppelzimmer, aber angeblich gibt es in diesem Etablissement nur Einzelzimmer.
Die Einrichtung meines „Single Rooms” besteht aus einem Bett mit einer dünnen, durchgelegenen Matratze und einem schmutzigen Laken darauf.
Ich bin sehr froh, dass ich mich hier in einen eigenen Schlafsack hüllen kann, und auch darüber, dass ich zudem (Rolfs Rat befolgend) ein massives Vorhängeschloss westfälischer Fertigung eingepackt habe. Die niedlichen indischen Schlösser, die die Rezeption zum Verriegeln der Kämmerchen zur Verfügung stellt, sehen aus, als könne man sie mit zwei Fingern knacken.
Und weiß ich, wer noch alles einen Schlüssel dafür hat?
Die psychedelischen Wandbemalungen in dem Kabuff interpretiere ich als Hinweis darauf, dass frühere Bewohner dieses Raumes offenbar versucht haben, sich mit dem Konsum von reichlich Charas für die Trostlosigkeit ihrer Unterkunft zu entschädigen.
Aber ich muss hier ja nur eine einzige Nacht verbringen.
Und habe zudem gerade ganz andere Interessen: mein Magen knurrt nämlich laut und vernehmlich.
Ich gehe zu Inges Zimmer hinüber (das ebenso fensterlos und schmuddelig ist wie meins) und frage sie, ob sie auch hungrig ist.
Sie ist es, und wir wundern uns beide, woher unser Hunger kommt; schließlich haben wir doch heute nur im Bus gesessen oder gelegen…
Es scheint in diesem Viertel nur ein einziges Restaurant zu geben, und das befindet sich direkt neben unserem Hotel. Wir laufen noch ein Stück die Straße hinunter und gucken in ein paar Seitenstraßen – die machen aber alle einen so finsteren Eindruck, dass wir die Suche nach Alternativen bald einstellen.
Die Gaststätte entpuppt sich als etwas, was man in Hamburg eine „Spelunke” nennen würde. Zwar wird hier kein billiger Fusel ausgeschenkt (zumindest bekommen wir nichts dergleichen mit), aber die wenigen Gäste gehören zu der Sorte Zeitgenossen, bei deren Anblick man seine Tasche fest im Griff behält und denen man lieber nicht den Rücken zukehrt.
Wir quetschen uns hinter einen Tisch in einer Ecke und bestellen bei einem schielenden Kellner Quabili, das afghanische Gericht, das uns bei Mohammad so gut geschmeckt hat.
Die braun-graue Pampe aus zerkochtem Reis und zähen Bröckchen undefinierbaren Fleisches, die uns daraufhin vorgesetzt wird, hat aber leider – optisch wie geschmacklich – nicht die geringste Ähnlichkeit mit der köstlichen Speise, die wir vorgestern Abend in Herat genießen durften. Allein schon die klebrigen Teller, an deren Unterseite verkrustete Saucenreste kleben, würden uns normalerweise davon abhalten, dieses Zeugs zu essen, wenn – ja, wenn wir nicht so ausgehungert wären.
Doch mehr als eine halbe Portion von dem Fraß schaffen wir beide nicht.
7. September
Nach einer unruhigen Nacht bin ich schon sehr früh wach.
Eigentlich habe ich fast gar nicht geschlafen – in der Kammer war es unerträglich stickig, und ich hatte Sodbrennen. Immer wieder bin ich aufgestanden und habe mich in die offene Zimmertür gestellt, um frische Luft zu schnappen.
Ich rolle den Schlafsack auf, packe meine wenigen Sachen zusammen und sehe dann nach, ob Rolf und Catherine schon auf sind. Doch die Vorhänge vor ihrem „Schlafgemach” hinten im 608 sind noch zugezogen, und auch von den anderen Mitreisenden ist noch nichts zu sehen.
In dem düsteren Kämmerchen will ich nicht warten; also hänge ich das dicke Vorhängeschloss an die Tür und gehe ein bisschen spazieren, immer an der Mauer entlang, die das Gebäude und den Hof des Hotels umgibt. Als ich auf der Rückseite des Komplexes angelangt bin, will ich in eine schmale Gasse einbiegen – und bleibe wie angewurzelt stehen, als ich realisiere, was für eine Straße das ist.
Es ist die Straße der Fleischerläden.
Der Anblick der gehäuteten Tiere, Tier-Teile und Schädel mit leeren Augenhöhlen, die vor den Läden aufgehängt oder aufgespießt sind und von ekelhaft dicken schwarzen Fliegen umschwirrt werden, lässt mich ernsthaft über einen Wechsel zur vegetarischen Ernährung nachdenken.
In dieser Straßen ist schon richtig was los, offenbar ist der frühe Morgen eine gute Zeit, um Fleisch einzukaufen.
Würde ich vermutlich auch machen, überlege ich – wenn so ein toter Hammel den ganzen Tag im Freien und in der Sonne vor sich hin stinkt, wird er bestimmt nicht besser.
Während ich Händler und Kunden mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu beobachte, fällt mir auf, wie eigentümlich langsam sie sich bewegen, fast wie in Zeitlupe. Ab und zu hebt jemand eine Hand und scheint mit einer gemächlichen Bewegung einen unsichtbaren Schleier vor seinem Gesicht beiseite zu schieben.
Dann erst erkenne ich die Hornissen.
Die Luft ist voll von ihnen, und auch die dunklen Klumpen auf dem rohen Fleisch bestehen nicht – wie ich im ersten Moment gedacht habe – aus Fliegen, sondern aus den fleischfressenden Großwespen.
Die Afghanen gehen mitten durch die Hornissenschwärme hindurch, als wäre das die normalste Sache der Welt; abgesehen davon, dass sie ihre Schritte und Bewegungen etwas verlangsamen.
Mit einem leichten Schauder reiße ich mich von dem Anblick los und beschließe, meinen Spaziergang nicht fortzusetzen und an dieser Stelle umzukehren.
Als ich wieder in den Hof des Hotels einbiege, sind Rolf und Catherine gerade aufgestanden, und Rosi und Agnes kommen mit Schlafsack und Gepäck aus dem Gebäude.
„Schnelles Frühstück beim Bus, in einer halben Stunde geht es los!” ruft unser Fahrer ihnen zu.
Die Fahrt von Kandahar nach Kabul verschlafe ich.
Wenn ich zwischendurch mal wach werde, klettere ich zum Wasserkanister, trinke etwas und krabbele dann wieder hinten auf die Matratze, um den in der letzten Nacht versäumten Schlaf nachzuholen.
Erst am Abend, als wir in der Hauptstadt Afghanistans ankommen, werde ich wieder etwas munterer und setze mich ans Fenster.
Kabul ist zweifellos eine recht große Stadt, die auch einige breite Straßen und große Plätze aufzuweisen hat. Aber dennoch wirkt sie so gar nicht europäisch.
Nicht nur die Afghanen mit ihren Turbanen und Mützen, sondern auch die Architektur mit ihren zahlreichen sandfarbenen Kuppeln und den von Mauern umgebenen Häusern und Höfen kennzeichnen Kabul als typisch afghanische Stadt – wie Herat, nur eben größer.
Als wir über einen weitläufigen Platz im Zentrum fahren, kommen wir an der westlich wirkenden Fassade eines Supermarktes vorbei.
„Da gibt es ALLES – vom französischen Camenbert bis zu schottischem Whisky,” erklärt uns Rolf, „aber es kostet auch alles ein Vermögen. Da gehen die Diplomaten shoppen.”
Der Supermarkt wirkt wie ein Fremdkörper. Er passt überhaupt nicht hierher, nicht in diese Stadt.
Unser Fahrer steuert ein Hotel nicht weit vom Stadtzentrum an, in dessen Garten er parken und preisgünstig übernachten kann.
„Die Zimmer dort sind aber recht teuer,” meint er und rät uns, für die fünf Tage, die wir in der Stadt verbringen werden, lieber was Billigeres „im Dunstkreis der Chicken Street” zu suchen.
Rosi und Agnes entscheiden sich dennoch für das Edel-Hotel, und die Aussicht auf saubere Zimmer und frische Bettwäsche führt auch mich einen Moment lang in Versuchung.
Ich erkundige mich an der Rezeption nach den Preisen; sie sind wirklich exorbitant, und Inge weigert sich zu Recht, hier abzusteigen.
Mein Blick fällt auf die gläserne Tür eines neben der Rezeption stehenden Schrankes, in dem „Coca Cola”-, „Sprite”- und „Seven Up”-Flaschen aufgereiht stehen.
Plötzlich habe ich ein flaues Gefühl im Magen, und mich überkommt eine irrsinnige Lust auf eine eiskalte Cola.
Ich kaufe mir eine Flasche, trotz ihres ebenfalls abenteuerlich hohen Preises, und während ich sie öffne, verstärkt sich das Gefühl von Übelkeit.
„Irgendwie ist mir schlecht,” sage ich zu Inge.
„Mir auch,” gibt sie zurück – und bestellt sich ebenfalls eine Cola.
Leider hat das süße Erfrischungsgetränk nicht die erhoffte Wirkung, meinen in Aufruhr geratenen Magen zu besänftigen. Stattdessen nekomme ich heftige Krämpfe, die mich zwingen, eilends die – glücklicherweise piekfein geputzte – Hoteltoilette aufzusuchen.
Auf dem Rückweg zur Rezeption begegnet mir eine blasse Inge, die sich die Hand vor den Mund hält und mit schnellen Schritten in Richtung WC strebt.
„Das sieht verdammt nach einer ausgewachsenen „diarrhea” aus,” sagt Rolf und guckt mich mitleidig an. Er benutzt die englische Bezeichnung für Durchfallerkrankungen, die ich in der nächsten Zeit sehr viel öfter hören und sagen werde, als mir lieb ist…
„Meine Güte, ist mir übel!”
„Was habt ihr denn gestern so zu euch genommen?”
Ich erzähle von dem nicht sonderlich appetitlichen Abendessen, das Inge und ich in Kandahar hatten – allein beim Gedanken daran muss ich jetzt fast brechen – und unser Fahrer wiegt sorgenvoll sein Haupt.
„Das Problem war wahrscheinlich gar nicht das Essen,” meint Catherine, „sondern die Teller und das Besteck. Es gibt einfach nicht genug sauberes Wasser, um das Geschirr vernünftig abzuwaschen. Und den Afghanen ist das auch nicht so wichtig, sie selbst sind natürlich schon ziemlich resistent gegen diese Keime…”
„Die gute Nachricht ist, dass es sich dann wahrscheinlich bloß um eine bakterielle Infektion handelt,” sagt Rolf tröstend, „und nicht um eine richtig üble Sache – wie zum Beispiel eine Amöbenruhr. Das heißt, ihr seid in zwei, drei Tagen durch damit!”
Den Gedanken, dass mir mehrere Tage so kotzelend sein soll wie jetzt im Moment, finde ich dennoch nicht besonders reizvoll.
Ich wühle im Koffer nach meiner kleinen Reise-Apotheke und fische die Kohletabletten heraus, die ich für derartige Notfälle eingepackt habe. Mit ein paar Schlucken Cola zusammen würge ich zwei der großen schwarzen Tabletten hinunter – und muss wenige Minuten später zur Toilette rennen, um mich zu übergeben. Die Tabletten verlassen meinen Körper praktisch in Originalgröße wieder…
Auch Inge geht es von Minute zu Minute schlechter.
Kurz entschlossen nehmen wir unser Gepäck und trotten in Richtung des großen Platzes im Zentrum der Stadt. Wir beschließen, in einem schäbig wirkendem Hotel-Klotz direkt dahinter nach einem Zimmer zu fragen; nicht, weil uns dieses Haus besonders gut gefällt, sondern weil wir einfach nicht mehr weiter können.
Unsere erste Frage an der Rezeption gilt dann auch nicht den Zimmerpreisen, sondern der Toilette…
Das Zimmer, das wir hier für ein kleines Geld anmieten, hat große Ähnlichkeit mit einer Gefängniszelle. Es ist ein schmaler, hoher Raum mit einer kleinen, vergitterten Fensteröffnung, durch die man nicht hinaus sehen kann, weil sie sich in etwa zweieinhalb Metern Höhe direkt unter der Decke befindet.
Möbliert ist der Raum mit zwei pritschenähnlichen Metallbetten, einem wackeligen kleinen Tisch und einem ebenso altersschwachen Stuhl.
Jedes Mal, wenn sich meine Gedärme verkrampfen oder mir der Mageninhalt aus dem Gesicht zu hüpfen droht, muss ich das Zimmer verlassen und den langen, engen Flur hinunter zum Badezimmer laufen. Es sind ungefähr sechs Meter – eine Distanz, die sich im Laufe dieser Nacht zweimal als zu lang für mich erweist. Glücklicherweise befindet sich dort außer dem WC auch eine Dusche mit (spärlich) fließendem kalten Wasser.
Inge und ich lassen uns ungezuckerten, schwarzen Tee aufs Zimmer bringen, aber nicht einmal der will im Magen bleiben.
In Embryonalhaltung zusammengekrümmt, dösen wir schließlich auf unseren Pritschen ein. Während der ganzen Nacht werden wir etwa im Stundentakt von unseren revoltierenden Innereien geweckt, springen auf und stürzen hinaus in Richtung Badezimmer.
8. und 9. September
Die nächsten zwei Tage verbringen wir in unserer „Zelle”.
Wir liegen völlig erschöpft auf den unbequemen, klumpigen Matratzen herum, versuchen immer wieder, etwas Tee bei uns zu behalten, und die Strecke zum Bad bewältigen wir nach einiger Zeit bereits im Halbschlaf.
In der nächsten Nacht kann ich einmal gut vier Stunden am Stück schlafen, bevor ich mich wieder auf den Weg den Flur hinunter machen muss.
Das tut mir ungeheuer gut, und auch Inge sieht am zweiten Morgen schon etwas weniger blass und gerädert aus.
Inzwischen gelingt es uns auch, etwas von dem abgekühlten schwarzen Tee, den wir in kleinen Schlucken trinken, im Magen zu behalten. Der ständige Brechreiz hat zwar aufgehört, aber wir wagen es immer noch nicht, uns weiter als zehn, zwanzig Meter von der Toilette zu entfernen…
Am späten Nachmittag des zweiten Tages setzen wir uns in den Hof des Hotels, um nach all den Stunden in dem düsteren Zimmer ein paar Sonnenstrahlen zu genießen.
„Meine Güte,” sagt Inge und mustert mich mit großen Augen, „ich glaube, wir zwei haben in den letzten drei Tagen mindestens vier Kilo abgenommen!”
„Das macht nichts,” erkläre ich, das Gesicht mit halbgeschlossenen Augen der Sonne zugewandt, „wenn es stimmt, was Catherine und Rolf über die Restaurants in Delhi erzählen, nehmen wir die paar Kilos spätestens dort wieder zu!”
„Ich denke, ich bin auf dem Weg der Besserung.” Inge lächelt versonnen. „Ich kriege nämlich beim Gedanken daran richtig Hunger.”
Stimmt. Auch ich kann wieder an Essen denken, ohne gleich zu würgen anzufangen.
Aber trotz meines wieder erwachenden Appetits würde mich noch nicht trauen, irgendwas zu essen – außer vielleicht…
„Der Supermarkt! Rolf hat doch gesagt, da gibt es Alles – dann haben die doch bestimmt auch Zwieback oder so etwas Ähnliches!”
Wir planen unseren kleinen Einkauftrip generalstabsmäßig.
Zuerst suchen wir beide noch einmal das WC auf, dann marschieren wir zügigen Schrittes zum Supermarkt, wo wir keinen Blick auf all die teuren Köstlichkeiten verschwenden, sondern direkt das Gebäck-Regal ansteuern, wo wir eine große Tüte deutschen Zwieback und ein kleineres Päckchen englischer Cracker auswählen.
Wir bezahlen dafür den Gegenwert eines kompletten Menüs in meiner Hamburger Stamm-Pizzeria und kehren dann auf dem kürzesten Weg ins Hotel zurück.
Als wir eine halbe Stunde später auf unseren Betten hocken und mit Hochgenuss in kalten Tee getunkten Zwieback verzehren, beschließen wir, dass der schlimmste Teil unserer „Kandahar-Diarrhoe” wohl überstanden ist – und wir uns morgen früh ein angenehmeres Hotel suchen werden.
Weiterlesen » 14. Hasta la vista, Kabul