14. September
In dieser Nacht, die ich im Schlafsack schwitzend am Straßenrand wenige Kilomneter vor dem Grenzübergang Wagha verbracht habe, konnte ich insgesamt höchstens drei Stunden lang schlafen. Trotzdem war ich selten so froh über die ersten Sonnenstrahlen, die der Nacht ein Ende setzen.
Die lange Reihe der Fahrzeuge ist in feucht-warmen Dunst getaucht.
An beiden Seiten der Straße erwachen die in Tücher und Decken gehüllten Schläfer, und ihr Schwatzen und Klappernmit Gerätschaften aus Edelstahl und Weißblech weckt auch diejenigen, die vom Tagesanbruch noch nichts mitbekommen haben.
Zum ersten Mal bekomme ich hier den Einsatz jener „Natur-Zahnbürsten” vorgeführt, von denen mir Indien-Reisende erzählt haben – Holzstöckchen, die an den Enden zu faserigen „Besen” zerkaut und dann zur Zahnreinigung verwendet werden.
Es handelt sich dabei ganz offensichtlich eine sehr effektive Art der Zahnpflege, denn sogar spindeldürre, unterernährt und auch sonst nicht gerade gesund aussehende Pakistanis und Inder verfügen häufig über ein wirklich prachtvolles, blendend weißes Gebiss.
Auch meine Mitreisenden wachen nun nach und nach auf.
Nach einer flüchtigen Morgentoilette wird Kaffee und Tee zubereitet, dazu gibt es Knäckebrot und Zwieback. Wir haben gerade unsere Becher und Schalen abgespült, als weiter vorn in der Kolonne die ersten Motoren gestartet werden.
„Los, los, alles einsteigen, es geht weiter – endlich!” drängt unser Fahrer, und wir beeilen uns, in den 608 zu kommen.
Wenig später rollt die Karawane aus PKWs, Bussen und teilweise wunderhübsch bemalten Trucks wieder, und etwa eine halbe Stunde später halten wir an der Grenze.
Als wolle man die Reisenden für die unbequem am Straßenrand verbrachte Nacht entschädigen, verläuft die Abfertigung durch den Zoll, auf der pakistanischen wie auf der indischen Seite, erstaunlich schnell und unkompliziert. Wie schon in Torkham müssen wir nicht einmal aussteigen, sondern die Zöllner klettern zur Passkontrolle in den 608.
Selbstverständlich müssen sie irgendwelche Papiere ausfüllen, haben aber gerade keinen Stift zur Hand, und selbstverständlich überreicht Rolf ihnen eigens dafür mitgebrachte Vier-Farb-Kugelschreiber (die in diesem Teil der Welt immer noch eine technische Neuheit ersten Ranges darstellen). Ebenso selbstverständlich winkt er ab, als der pakistanische Beamte so tut, als wolle er ihm den Kugelschreiber zurück geben – der auf der indischen Seite verzichtet gleich auf diese symbolische Geste und steckt den dicken, golden glänzenden Schreiber erfreut grinsend in seine Brusttasche.
Ich hatte gehofft, in kurz hinter der Grenze gelegenen Amritsar einen Blick auf den berühmten Goldenen Tempel der Sikhs werfen zu können, aber nein, unser Fahrer hat es eilig.
Er will unbedingt noch vor dem Abend in Delhi sein, und das ist nicht nur eine ziemlich lange Strecke, sondern man kommt auf den indischen Straßen auch bei weitem nicht so schnell voran wie auf den Pisten in den menschenleeren Wüstengebieten in der Osttürkei, im Iran oder in Afghanistan. Schon in Pakistan hatte der Verkehr stark zugenommen, und hier schiebt sich unser Bus immer wieder im Schritt-Tempo durch ein mobiles Dickicht aus von Pferden, Büffeln oder Mulis gezogenen Karren, Kraftfahrzeugen, motorisierten oder mit Beinkraft angetriebenen Rikschas, Fahrrädern und Fußgängern…
„Auch nachts ist auf den indischen Straßen noch eine Menge los,” erzählt Rolf, „allerdings haben die Eselskarren und der überwiegende Teil der Radfahrer kein Licht, und eine Straßenbeleuchtung existiert nur an den Hauptverkehrsachsen der größten Städte. Deshalb vermeide ich es, nach Einbruch der Dunkelheit noch zu fahren.”
„Bei Vollmond ist es nicht ganz so schlimm,” wirft Catherine ein, „aber momentan ist vom Mond kaum was zu sehen; ihr habt ja selbst mitgekriegt, wie finster es letzte Nacht war. Es wäre wirklich besser, wenn wir noch bei Tageslicht in Delhi ankommen!”
Ihr Wunsch geht in Erfüllung – am späten Nachmittag erreichen wir die nordindische Metropole.
„Wir werden mindestens eine Woche in Delhi bleiben, denn es gibt hier Einiges zu erledigen,” informiert uns Rolf, während er den 608 durch das Getümmel auf den Straßen der Stadt steuert.
„Als erstes fahren wir jetzt zum „New Delhi Tourist Camp”. Das ist ein Camping Platz, auf dem man auch kleine Hütten mieten kann. Die Duschen und Toiletten sind einigermaßen o.k., und es gibt eine ganz nette Cafeteria. Außerdem ist direkt vor dem Eingang die Haltestelle einer Motorikscha-Linie zum Zentrum Neu-Delhis, dem Connaught Place. Und da wir wegen der Nepal-Visa zusammen zur Botschaft fahren werden, wäre es schon ganz praktisch, wenn ihr auch da wohnt.”
Die Worte „Dusche”, „Toiletten” und „Cafeteria” sind Musik in meinen Ohren. Ich beschließe umgehend, auf jeden Fall während unseres Aufenthalts im „New Delhi Tourist Camp” zu bleiben, und auch von den Anderen kommt kein Einwand gegen Rolfs Vorschlag.
„Morgen fahre ich dann zu einem kleinen Reisebüro, in dem ich immer meine Rückflug-Tickets nach Deutschland kaufe. Man kriegt da nicht nur Billig-Tickets für die „Syrian Arab Airlines” oder dergleichen, sondern auch welche für ordentliche Fluggesellschaften zu sehr zivilen Preisen. Kann ich euch ebenfalls empfehlen!”
„Ich würde ja gern schon ein Ticket kaufen, aber ich weiß noch gar nicht genau, wann ich zurückfliegen werde,” wendet Inge ein.
„Ich habe doch jetzt auch noch keine Ahnung, wann Catherine und ich zurück wollen,” erklärt unser Fahrer, „das macht aber nichts, die Tickets sind undatiert. Du rufst einfach ein paar Tage vor dem gewünschten Rückflug-Datum das Reisebüro an, zum Beispiel von Kathmandu aus, und erst dann buchen sie für dich einen Platz in einer Maschine deiner Fluggesellschaft.”
„Das ist ja ideal,” sage ich.
„Ich möchte dann auf jeden Fall morgen in das Reisebüro mitkommen!”
Bis auf Rosi und Agnes – die, wie sich herausstellt, die Tickets für ihre Rückflüge bereits vor unserer Abreise in Hamburg gekauft haben – melden sich auch die anderen Passagiere für die Fahrt zum Reisebüro an.
Das „New Delhi Tourist Camp” ist eine grüne Oase inmitten dieser riesigen Stadt.
Es ist von einer hohen Mauer umgeben, die nicht nur Straßenhändler und Bettler, sondern auch einen Teil des tosenden Verkehrslärms von den Gästen fernhält. In der relativ gepflegten Anlage stehen locker verteilt Reis- und Kleinbusse, Zelte und die von Rolf erwähnten kleinen Hütten. Auch ein Rotel-Bus steht nahe beim Eingang, dessen Passagiere – die bei dieser schwülen Hitze in sardinendosengroßen Schlafzellen aus Blech übernachten müssen – einem wirklich leid tun können. Da nehme ich doch lieber eine gelegentliche Übernachtung am Straßenrand in Kauf…
Inge und ich mieten eine der nur mit zwei Pritschen, einem wackeligen Stuhl und einem Tisch möblierten Ein-Zimmer-Häuschen.
Wir sind beide hungrig, aber bei mir ist die Sehnsucht nach fließendem Wasser noch größer als die nach Nahrung. Und so führt mich mein erster Weg zu den Waschräumen, sobald mein Koffer unter einer der Pritschen verstaut und die Tür unserer Hütte mit einem Vorhängeschloss gesichert ist.
Aus dem Abfluss in der ersten Duschkabine, deren Tür ich aufstoße, kommt mir eine monströse, ungefähr fünf Zentimeter lange Kakerlake entgegen gekrabbelt. Meine Reaktion auf das Ungetüm erstaunt mich selbst – ich zucke bloß mit den Achseln und nehme die Dusche zwei Türen weiter. Wahrscheinlich bin ich zu erschöpft, um mich ausgiebig zu ekeln.
Nach dem Duschen gehe ich zum „Tourist Camp”-Restaurant. Inge, Anna, Catherine, Rolf und Ulli sitzen dort schon auf der Veranda. Ulli hat sich zur Feier unserer Ankunft sogar ein teures „Kingfisher”-Bier geleistet.
Ich bestelle mir ein Club-Sandwich, das sehr lecker ist, und als ich danach noch nicht ganz satt bin, empfiehlt mir Rolf eine Portion „Banana Fritters” als Dessert. Das sind geviertelte, in Backteig frittierte Bananen, die hier mit einer Art Pudding-Soße („Custard”) mit Vanillegeschmack serviert werden. Ich bin total entzückt von dem köstlichen Kontrast zwischen fettiger Knusprigkeit und milder Süße. Inge bestellt sich auch eine Portion, nachdem sie bei mir probiert hat.
Nach dem Essen sitzen wir noch ein Weilchen träge herum und beobachten die drolligen Streifenhörnchen, die auf den Bäumen und Rasenflächen umher flitzen.
„Ich dachte, Streifenhörnchen gibt es nur in Amerika…” sage ich versonnen.
„Ja, und da besonders in Disney-Zeichentrickfilmen!” lacht Inge.
„Nein, ernsthaft,” ich setze mich auf, „ich habe mal gelesen, dass Streifenhörnchen, so wie unsere Eichhörnchen, eine Winterruhe halten. Wann machen sie die denn hier in Indien?”
„Ich glaube nicht, dass indische Streifenhörnchen überhaupt so etwas wie Winterschlaf machen,” erklärt Catherine.
„Auf jeden Fall gibt es davon in Delhi recht viele. In den Grünanlagen rund um das Red Fort wimmelt es nur so von ihnen. Teilweise sind die sehr zutraulich, fressen dir Nüsse und Keks-Stückchen aus der Hand.”