Unser Bummel über den Janpath Market im Zentrum Neu Delhis zieht sich in die Länge, denn es gibt an den Ständen nicht nur Kunsthandwerk, Schmuck und Textilien in einer unglaublichen Vielfalt zu bewundern, sondern jeder Kauf, selbst der eines billigen bunten Glas-Armreifens, ist mit beträchtlichen Anstrengungen verbunden.
Denn hier wird weitaus erbitterter gefeilscht als im Großen Bazar von Istanbul oder in den Shops von Herat und Kabul!
Fragt man nach einem Preis („kidnaa paisaa?”), dann trifft einen erst einmal ein prüfender Blick des Händlers. Kleidung, Schmuck und Frisur, vermutlich auch der Gesundheitszustand, werden in Sekundenbruchteilen gescannt, um zu ermitteln, aus welchem Teil der Welt der Interessent kommt und wie er finanziell ausgestattet sein mag. Die Analyse dieser Faktoren mündet dann offenbar in einer – bei Europäern zwei‑, bei US-Amerikanern dreistelligen – Zahl, mit welcher der für Einheimische übliche Preis multipliziert wird. Sodann öffnet der Anbieter den Mund und nennt eine enorme Fantasiesumme – wobei die weniger abgebrühten Händler angesichts der Höhe der verlangten Summe selbst ein bisschen erschrocken wirken…
Das spielerische Element, das für mich in Afghanistan den Reiz des Feilschens ausmachte, fehlt hier leider völlig. Daher beantworte ich die Nennung von total überzogenen Preisforderungen ziemlich schnell nur noch mit einer genervten Grimasse und wende mich ab.
An einem Schmuckstand ziehen dann aber doch aus feinem Silberdraht geflochtene Armbänder meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Spangen und Verschlüsse dieser Armbänder sind von sehr unterschiedlicher Qualität. Bei einigen ist kaum zu erkennen, was sie darstellen sollen, während andere viele zierlichen Details aufweisen.
Ich reiche dem alten Mann mit Turban, der hinter dem Ladentisch steht, zwei möglichst verschiedene Armbänder hinüber. Wie Catherine es uns eingeschärft hat, tue ich das mit der rechten Hand, denn die Linke wird in Indien zum Abwaschen des Hinterns nach dem Toilettengang benutzt und ist daher „unrein”.
Bei dem einen Armband, das ich herausgesucht habe, ist der Verschluss bloß ein Silberklumpen, der entfernt einem Stern ähnelt, während das andere Stück von feingearbeiteten Blumenornamenten geziert wird. Zu meiner Überraschung wirf der Händler beide Armbänder hintereinander auf eine Waage und zeigt dann die Preise auf einer Tabelle – sie richten sich ausschließlich nach dem Silbergewicht, und da das fein gearbeitete Schmuckstück weniger wiegt, ist es billiger als das hässliche!
Trotzdem wird mir nach kurzem Nachdenken klar, dass hier ebenfalls gefeilscht werden kann – und wohl auch muss, will ich nicht als dumme Touristin dastehen, die mehr Geld als Verstand hat. Also fange ich an, mit dem Alten über den von ihm zugrundegelegten Silberpreis zu verhandeln, und nach etwa einer Viertelstunde werden wir uns tatsächlich einig.
Inge hat unterdessen einen gebatikten Wandbehang für ihre Eltern und eine bestickte Bluse für sich erstanden, und nun sind wir beide erschöpft und verschwitzt – reif für den Pool des Hotel Imperial!
Glücklicherweise ist es nicht mehr weit bis zu dem unübersehbaren Prachtbau am Janpath.
Wir gehen direkt zum Swimmingpool, der hinter dem Hauptgebäude inmitten der gepflegten Gartenanlage liegt. An der Tür eines Pavillons erhalten wir von einem Hotelangestellten in weißer Uniform gegen Zahlung von 10 Rupien eine Tages-Eintrittskarte und ein blau-weiß gestreiftes Badehandtuch.
Der Pool ist nicht besonders groß, aber glücklicherweise gibt es nur wenige Schwimmer außer uns. Die meisten Anwesenden relaxen auf Liegestühlen und Tüchern auf dem Rasen.
Nachdem wir uns ausgiebig erfrischt haben, reibe ich mich nach dem Abtrocknen mit einem lecker duftenden Kokosöl ein, das ich in einem Shop am Connaught Circus gekauft habe. Laut Etikett handelt es sich eigentlich um ein Haar-Öl, aber ich will es als Bräunungs-Beschleuniger verwenden, denn meine seit Wochen rund um die Uhr züchtig bedeckten Körperteile (wie Arme, Beine, Bauch und Rücken) sind noch deutlich heller als mein Gesicht, die Hände und die Füße. Das soll sich schleunigst ändern.
Inge greift lieber zu deutscher Sonnencreme, aber sie ist ja auch eine blasse Blondine, deren sommersprossige Haut sich rötet, statt braun zu werden.
Drei junge Männer mit halblangen Haaren kommen von der Terrasse des Hotels zum Pool geschlendert, mustern die Anwesenden und lassen sich dann links von uns nieder.
Auf den ersten Blick wirken sie wie irgendwelche Hippies, die man eher im New Delhi Tourist Camp vermuten würde als im Hotel Imperial, aber dann sehe ich, dass die Hemden und Hosen, die sie ablegen, tipptopp gebügelt und aus feinstem Zwirn sind. Auch tragen sie ungewöhnlich viel Schmuck, beispielsweise hat der eine einen breiten Gürtel aus Silber um, der gearbeitet ist wie mein neues Armband – nur das er bestimmt das Hundertfache wiegt (und kostet) …
Inges Blick ist dem meinen gefolgt.
„Was auch immer diese Herren für Geschäfte machen – sie laufen offensichtlich sehr gut, diese Geschäfte,” murmelt sie.
Ich beobachte, wie ein Hotel-Boy ein Tablett mit einen eisgekühlten Longdrink zu einer älteren Dame im Liegestuhl bringt, und winke ihn zu uns heran. Wir bestellen Lemon Ice Tea, und da mein Magen schon mehrmals vernehmlich geknurrt hat, ordere ich dazu noch ein Club Sandwich – auch wenn das hier den Preis eines kompletten Menüs (in einem „normalen” Restaurant) kostet.
Die Herren mit dem schweren Silberschmuck sind anscheinend zum Bräunen an den Pool gekommen, denn ins Wasser gehen sie nicht. Nach einer Weile beginnt einer von ihnen, einen riesigen Joint zu drehen, und bald weht eine Wolke harzigen Rauchs herüber.
Die ältere Dame zu unserer Rechten, ich halte sie für eine Britin, zischelt ihrer Freundin etwas zu, und ich meine, ein „digusting” herauszuhören.
Mir tut der Boy leid, der gerade mit unseren Eistees und dem Sandwich naht.
Der gute Mann befürchtet wahrscheinlich, dass sich die älteren Hotelgäste gleich bei ihm beschweren werden und er gezwungen sein wird, die Kiffer zurechtzuweisen, die aber offenbar auch Hotelgäste sind – möglicherweise sogar welche, die beim Trinkgeld weitaus großzügiger sind als englische Ladies. Er weiß gar nicht, wo er hingucken soll, und hat es sehr eilig, zu kassieren und zurück zum Pavillon zu flüchten.
Einer von den reichen Jungs hebt den Joint hoch und schwenkt ihn mit fragender Miene in unsere Richtung. Ich winke kopfschüttelnd ab, fische meinen Nepal-Reiseführer aus meiner Tasche und vertiefe mich in diese Lektüre.
Was für rücksichtslose Schnösel! Klar, man kann hier in Delhi relativ problemlos Haschisch kaufen, aber das ändert doch nichts an der Tatsache, dass Handel und Konsum in Indien Straftaten darstellen.
Wenn im „Tourist Camp” am Abend, diskret hinter Bussen, Zelten oder Hütten, der eine oder andere Joint herum geht, dann hat bestimmt niemand ein Problem damit. Hier aber, wo überwiegend konservative Hotelgäste am Pool Entspannung suchen, ist demonstratives Kiffen einfach nur dummdreist. Außerdem finde ich es extrem unfair, Hotelangestellte, die vermutlich froh über einen krisenfesten Job in einem der renommiertesten großen Hotels der Stadt sind, in eine solche Zwickmühle zu bringen!
Als wir am Abend ins „Tourist Camp” zurück kommen, finden wir unsere Reisegruppe beim Bus versammelt. Die Gesichter sind traurig bis betreten, und wir erfahren schnell den Grund dafür:
Anna hat im Hauptpostamt einen Brief ihrer Mutter vorgefunden, in dem diese sie auffordert, umgehend nach Hamburg zurück zu kehren – andernfalls, so droht sie, werde sie Anna das Sorgerecht für die Tochter entziehen lassen. Es stellt sich heraus, dass Anna, als sie kurz vor unserer Abreise das Kind zu ihrer Mutter gebracht hat, dieser wohl nicht die ganze Wahrheit über das Ziel und die Dauer ihrer Reise gesagt hat…
„Mensch, Frau,” platzt es aus Inge heraus, „Spontaneität ist ja gut und schön – aber so etwas kannst du doch nicht machen!”
Anna zieht eine Grimasse und nickt betrübt.
„Das ist mir jetzt auch klar.”
Die Leute aus dem Reisebüro, in dem wir erst gestern unsere Rückflug-Tickets gekauft haben, waren sehr nett und professionell, erzählt Anna. Sie haben es geschafft, sie schon morgen in einem Flieger nach Deutschland unterzubringen.
Wir sitzen noch lange beieinander. Rolf schmeißt den Kassettenrecorder im Bus an und tut sein Bestes, um uns aufzuheitern („Das ist jetzt Annas vorerst letzter Abend in Indien, da sollten wir nicht Trübsal blasen!”), aber die Stimmung ist und bleibt gedrückt. Ich glaube, jeder von uns wird die warmherzige Anna vermissen, sogar Agnes, der sie zu Beginn unserer Reise erklärtermaßen viel zu „ausgeflippt” erschien.
Der wortkarge Eigenbrötler Ulli, mit dem zusammen Anna von Anfang an viel unternommen hat, hat einen Arm um sie gelegt und redet mit leiser, liebevoller Stimme auf sie ein. Ich habe gar nicht mitgekriegt, dass die beiden was miteinander hatten – aber die Zärtlichkeit, mit sie sich jetzt küssen, lässt wohl keinen anderen Schluss zu.