25. September
Nach dem Aufwachen bleibe ich noch eine Weile still liegen, so lange, bis ich ganz sicher bin, dass ich wirklich nicht träume. Aber nein, es ist wahr, ich bin tatsächlich in Nepal – endlich am Ziel angekommen.
Aus dem Nebenraum dringt Geplätscher; offenbar steht Inge unter der Dusche. Ob das Wasser heute morgen wohl warm ist? Aber eigentlich ist das nicht wichtig, wir haben uns längst ans Duschen und Haare waschen mit kaltem Wasser gewöhnt.
Es ist angenehm warm, nicht so drückend und schwül wie noch vor wenigen Tagen in Delhi. Durch die trüben Scheiben des Fensters fällt helles Sonnenlicht in unser mit einem wackeligen Tisch und zwei Betten karg möbliertes Zimmer.
Ich höre Stimmen, dann Gelächter, und als ich aus dem Schlafsack und in Rock und T‑Shirt geschlüpft bin und vor die Tür trete, sehe ich mehrere Hotelgäste, darunter auch Catherine, Rolf und Ulli, bereits unter dem Sonnensegel im Hof sitzen und frühstücken.
Vor der Tür des Nebenzimmers hängt eine Spinne von beeindruckenden Ausmaßen in ihrem Netz. Glücklicherweise – für die Spinne ebenso wie für menschliche Hotelgäste – scheint das Zimmer nicht belegt zu sein. Nach dem Aufstehen geradewegs in so ein großes, klebriges Netz hinein zu marschieren, würde den Zauber eines nepalesischen Morgens wohl für die meisten Menschen stark beeinträchtigen.
Wie zur Erinnerung daran, dass dies kein von Menschen, sondern ein von Mutter Natur gestaltetes Paradies ist, gibt es hier wahrhaft gigantische Arachniden. Gestern habe ich eine gelb-schwarz gemusterte Spinne entdeckt, die ihr Netz neben der Hotel-Einfahrt zwischen zwei Bäumen gespannt hat. Sie hing regungslos einige Meter über meinem Kopf, war aber trotz der Entfernung noch sehr, sehr groß – ihr von mir geschätzte Durchmesser (allerdings inklusive der langen Beine) betrug fast 30 Zentimeter.
Die Nepalis würdigen solche achtbeinigen Riesen übrigens keines Blickes. Eine vergleichsweise kleine, grau-braune Spinne jedoch, die im Speiseraum unseres Hotels an der Wand entlang flitzt, beobachten sie stets aus dem Augenwinkel und vermieden es, dem kleinen Jäger allzu nah zu kommen.
Ich bestelle mir einen Tee und „Pancake” bei dem Jungen, der mit einem Tablett aus dem Hauptgebäude kommt. Als er mir wenig später das Gewünschte bringt, stellt er die üblichen Fragen – „What is your name? Where do you come from?”. Im Unterschied zu den Kids in den Straßen von Delhi habe ich bei ihm aber den Eindruck, dass er meine Antworten versteht.
Er fragt mich, in welchem Teil von „Germany” meine Heimatstadt denn liegen würde, und als ich sage, im Norden, in der Nähe der Nordsee, ernte ich einen verständnislosen Blick.
Woher soll Ganesh, so heißt der Junge, denn auch wissen, was ein Meer ist? Ich versuche es zu erklären, indem ich in Richtung des Sees deute und sage, die Nordsee sei viele tausend Mal größer als der Fewa Lake, und ihr Wasser sei salzig. Ganesh prustet los und krümmt sich vor Lachen; er scheint das für einen gelungenen Witz zu halten.
Ich gebe den Versuch auf, dem kleinen Bergbewohner eine Vorstellung von Ozeanen nahe zu bringen, und frage ihn, ob er in der Schule so gut Englisch sprechen gelernt habe.
Das Lachen verschwindet aus seinem Gesicht. Er schüttelt den Kopf.
„Me, I don‚t go school,” sagt er betrübt.
„Ah… so.”
Ich bin befangen, traue mich nicht zu fragen, warum er denn nicht zur Schule geht. Schließlich betreibt die Familie ein recht gut gehendes Hotel – da müsste es ihr doch möglich sein, den Kleinen zur Schule zu schicken?!
Als ob er meine Gedanken gelesen habe, erklärt Ganesh, dass er kein Mitglied der Sippe ist, die das Hotel betreibt. Er ist eine Waise, die Hotel-Familie hat ihn aufgenommen, und als Gegenleistung für seine Dienste als Kellner und Hotel-Boy bekommt er zu essen und darf im Hauptgebäude schlafen.
„I cannot go school, I work,” sagt er, und es klingt traurig, aber zugleich ein wenig stolz.
„But I learn. Friend is teacher, and tourist is teacher,” ergänzt er und schreibt zum Beweis einige Zahlen und Schriftzeichen auf den Skizzenblock, der vor mir auf dem Tisch liegt.
Als ich sehe, wie hingebungsvoll und hoch konzentriert er die Striche und Bögen malt, schenke ich ihm den Block und einige Buntstifte zum Üben.
Ganesh strahlt.
Er verschwindet mit Block und Stiften im Haus, und ich entdecke den auf der Veranda thronenden Löwenhund. Gehört habe ich schon des öfteren von den kleinen, langhaarigen tibetischen Terriern, aber dies hier ist der erste Lhasa Apso, den ich leibhaftig zu sehen bekomme.
„Isn’t he lovely?” lächelt mich eine dunkelhaarige Frau an, als ich aufstehe, um den honigfarbenen Mini-Löwen aus der Nähe zu fotografieren.
„Yes, he is.”
„And he is intelligent, too,” meint sie.
Dass dies nicht nur ein besonders hübscher, sondern auch ein besonders kluger Hund ist, will ich gern glauben. Sein gelassener, aufmerksamer Blick und seine würdevolle Haltung sind völlig frei von jener schwanzwedelnden, leicht dämlich wirkenden Unterwürfigkeit, die viele seiner Artgenossen an den Tag legen.
Eigentlich bin ich ja eher ein „Katzen-Mensch”, aber in diesem Moment beschließe ich: wenn ich mir jemals einen Hund zulegen sollte, dann wird es ein Lhasa Apso sein!
Inge ist inzwischen auch herausgekommen, und wir setzen uns zu den anderen Hotelgästen.
Als Rolf sieht, dass jetzt alle Passagiere seines 608 versammelt sind, räuspert er sich und hält eine kleine Rede:
„Tja, nun sind wir also in Nepal angekommen; unsere gemeinsame Reise endet hier. Übermorgen fahren Catherine und ich nach Kathmandu, und wer möchte, kann mitkommen, um seine Post abzuholen oder was auch immer… Wer das Pokhara-Idyll noch etwas länger genießen möchte, kann natürlich noch hier bleiben und später auf eigene Faust in die Hauptstadt fahren; ein Bus-Ticket für die hundert Kilometer-Tour kostet nicht so viel.”
„Weißt du, wie viel?” will Ulli wissen.
„Der normale Bus kostet, glaube ich, um die 25 Rupees. Der ist aber auch den ganzen Tag unterwegs. Dann gibt es noch die Minibusse, die kosten zehn Rupees mehr und brauchen gut drei Stunden weniger für die Strecke. Mit mir kommt ihr natürlich am schnellsten nach Kathmandu, weil ich keine Zwischenstopps einlege.”
Unser Fahrer grinst.
„Ich komme gern Dienstag mit euch mit, will unbedingt gucken, ob ich Post habe. Und ich glaube, ich werde mir in Kathmandu ein Trekking-Permit holen,” verkünde ich.
Rosi guckt mich mit großen Augen an.
„Du willst in die Bergen gehen?” fragt sie erstaunt. „Du hast doch gar keinen Rucksack und keine Wanderstiefel dabei…”
„Kein Problem, Trekking-Ausrüstung kann man sich hier überall leihen,” wirft Rolf ein.
„Na ja, ich dachte nur, Paula ist mehr an Hippie-Klamotten und Schmuck und Haschisch interessiert, nicht so sehr an sportlichen Unternehmungen…” Rosi lacht verlegen.
Ich bin beleidigt. Bloß weil ich mit drei Paar Ohrringen und einer bestickten Kuchi-Weste aus Samt durch die Weltgeschichte latsche (und nicht in Bermuda-Shorts und Gesundheitsschuhen wie sie), glaubt sie, ich sei den Anforderungen einer Bergwanderung nicht gewachsen?
Da fällt mir auch noch Inge in den Rücken.
„Willst du das wirklich machen?” fragt sie mich. „Ich kann dich nämlich nicht in die Berge begleiten, weil ich in knapp zwei Wochen von Kathmandu aus nach Delhi zurück fliegen will. Schließlich will ich rechtzeitig zu Semesterbeginn wieder in Hamburg sein.”
„Ja, ich will das wirklich machen,” bestätige ich.
„Und ich pfeif’ aufs Wintersemester – jetzt, wo wir endlich in Nepal angekommen sind, werd’ ich doch nicht gleich damit anfangen, meine Rückreise zu planen!”
Ehrlich gesagt, war ich bis eben auch nicht sicher gewesen, ob Trekking wirklich das Richtige für mich ist, hatte nur die in Ludmilla Tütings Reiseführer beschriebenen Routen so spannend gefunden.
Aber angesichts der Tatsache, dass gleich zwei meiner Mitreisenden mir das nicht so recht zuzutrauen scheinen, steht mein Entschluss fest!
Am Ende stellt sich heraus, dass alle fünf (nach Annas Heimreise) verbliebenen Passagiere übermorgen mit Rolf und Catherine in die Hauptstadt fahren möchten. So schön und erholsam es hier am Ufer des Fewa-Sees auch ist – wir haben es eilig, unsere Briefe im Hauptpostamt in Kathmandu in Empfang zu nehmen. Und irgendwie ist diese Fahrt durch die grüne Landschaft Nepals auch so etwas wie ein krönender Abschluss, eine angemessen schöne letzte Etappe der rund 11.000 Kilometer weiten Reise, die wir gemeinsam hinter uns gebracht haben.
Nach dem Frühstück, das sich bis zur Mittagszeit hinzieht, spazieren Inge und ich los, um den „Lakeside”-Distrikt Pokharas in Augenschein zu nehmen. Wir wenden uns nach rechts und schlendern auf die in einem parkähnlichen Gelände am Seeufer gelegene Sommerresidenz der nepalesischen Königs-Familie zu, die von einer hohen Mauer gegen die Blicke des gemeinen (Touristen-) Volkes abgeschirmt wird.
Auf der anderen Straßenseite gibt es einige einfache, eingeschossige Unterkünfte, die dem „New Green Lake Hotel” ähneln; allerdings verfügt keins dieser Gasthäuser über ein so großes Gelände wie unsere Lodge. Es gibt, hat man uns gesagt, nur ein einziges Hotel am See, das heißes Wasser und andere, von „normalen” (soll heißen: mit Koffer statt mit Rucksack reisenden) Touristen geforderte Annehmlichkeiten zu bieten hat: die Luxusherberge „Fishtail Lodge”, benannt nach dem „heiligen Berg” Machapucharé, den die Nepalis wegen der Form seines Gipfels Fisch-Schwanz getauft haben.
Auch Restaurants und Läden gibt es neben der Straße; bei den meisten handelt es sich allerdings nur um bessere Bretterbuden oder Hütten.
Angebot und Aufmachung dieser Unternehmen sind ganz auf das bunte Völkchen aus dem Westen zugeschnitten; das merkt man unter anderen an den drolligen Namen einiger Restaurants, beispielsweise „The Hungry Eye” oder „Don’t pass me by”…
In den Läden entdecken wir Gläser mit Honig, richtigen Käse (der in einer von Entwicklungshelfern gegründeten Molkerei hergestellt wird), „German Bread”, kastenförmige Brotlaibe und eine Art von Semmeln. Und viele der „Chai-Shops”, der Tee-Buden am Wegesrand, bieten neben dem süßen, mit Milchpulver hellbraun gefärbtem Tee und Keksen auch frisch gebackene, mit Zucker bestäubte Donuts an.
Sogar einen Fahrradverleih muss es hier irgendwo geben; wir sehen langhaarige Hippies auf stabilen indischen Rädern zwischen Kühen und Karren herumkurven.
An einem belebten Platz, an dem mehrere Wege zusammenlaufen, finden wir das „Snowland”-Restaurant, von dem wir schon in unserem Hotel gehört haben. Es erfreut sich großer Beliebtheit, weil dort nicht nur eine der wenigen (und die mit Abstand beste!) Stereoanlage in Baidam steht, sondern auch die neueste Musik aus Europa und den USA gespielt wird – falls der Strom nicht gerade mal wieder ausfällt, was meist abends zwischen 21 und 22 Uhr der Fall ist. Außerdem soll es dort hervorragende Schweizer Rösti geben, die, wenn man seit Wochen fast ausschließlich auf Reis basierende Gerichte gegessen hat, eine verlockende Abwechslung darstellen.
Inge und ich beschließen, die knusprigen Kartoffelfladen nachher unbedingt noch zu probieren.
Von dem kleinen Dorfplatz aus führt auch ein Weg zum Seeufer hinunter und dann hinüber auf eine vorgelagerte Halbinsel, auf der der Barahi-Tempel steht. Unter seinem Pagodendach befindet sich ein Shiva-Lingam auf einem zweiteiligen Sockel, dessen oberer Teil die Yoni darstellt.
„Das Teil stellt die Vereinigung von Shiva mit seiner Shakti dar,” erkläre ich Inge, stolz darauf, dass ich mich vor unserer Abreise noch über die wichtigsten Götter des Hinduismus informiert habe.
„Es ist also sozusagen ein Symbol für göttlichen Sex.”
„Donnerwetter,” Inge ist gebührend beeindruckt, „einen derartig lockeren Umgang mit der Erotik hätte ich den Hindus gar nicht zugetraut. Bisher kamen die mir eher ziemlich steif und verklemmt vor; allein schon dieses bekloppte Kastensystem…”
„So eine Darstellung ist ja auch symbolisch gemeint,” wende ich ein, „ein Besuch des Tempels soll die Gläubigen bestimmt nicht sexuell auf Touren bringen.”
„Da wäre ich mir nicht so sicher – in der Zeit, in der er erbaut wurde, könnte das schon eine Rolle gespielt haben. Du weißt schon, Tantra und so…” Inge ist ein Stück um den Tempel herum gegangen und deutet auf die Reliefs an der Außenwand.
Ich folge ihr und betrachte sinnend die dort dargestellten üppigen, barbusigen Tänzerinnen.
„Die sehen allerdings wirklich heiß aus!”
„Guck mal, die Boote da drüben,” Inge zeigt auf eine Bucht neben dem Anwesen des Königs, in der mehrere Einbäume auf dem Ufer liegen, „die Amerikanerin im Hotel hat gesagt, die kann man für wenig Geld mieten!”
„Echt? Ich liebe Bootfahren! Wollen wir morgen mal über den See paddeln?”
„Ja, gern. Ich finde, wir nehmen unsere Bikinis mit und suchen uns am anderen Ufer eine ruhige Bucht zum Baden. Wir könnten auch was zu essen einpacken und da drüben ein Picknick veranstalten!”
Wir gehen zurück zum Platz, an dem das „Snowland” liegt, und dann weiter auf der am See entlang führenden Straße in Richtung Norden.
Hier gibt es immer weniger Shops und Restaurants. Hinter einer Schneider-Werkstatt, vor der einige der traditionellen nepalesischen Wickelblusen hängen, und einem Laden mit Second Hand-Rucksäcken, Wanderschuhen und anderem Trekking-Zubehör endet der touristische Teil des „Lakeside”-Viertels. Zur Linken ist jetzt nur noch das Seeufer zu sehen, und rechts erstrecken sich in sanft ansteigenden Terrassen angelegte Reis- und Hirse-Felder.
Fünf fröhlich schwatzende Nepali-Frauen kommen uns entgegen, die offenbar unten am See Wäsche gewaschen haben.
Drei von ihnen sind jung und wunderhübsch, die beiden anderen deutlich älter, aber wie alt genau, ist schwer zu schätzen. Sie haben Falten und graue Strähnen im Haar; vielleicht sind sie erst in den Fünfzigern, vielleicht aber auch schon zehn, zwanzig Jahre älter.
Es ist, als ob diese Frauen vom einen Tag zum anderen von einer mandeläugigen, jugendlichen Schönheit zur gestandenen Frau unbestimmbaren Alters werden – die zwar immer noch freundlich lächelt, aber da ist etwas Respekteinflößendes in diesem Lächeln, etwas, das dir sagt: ich weiß etwas, was du nicht weißt….
Hexen, schießt es mir durch den Kopf, während ich ihr Lächeln erwidere und die Hände vor der Brust zum „Namaste!” an einander lege.
Eine der älteren Frauen sagt etwas zu mir, und die jüngeren kichern.
Ich hebe die Augenbrauen und meine Schultern, zum Zeichen, dass ich nicht verstanden habe, und sie führt Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zu ihrem gespitzten Mund und tut so, als würde sie an ihren Fingerspitzen saugen. Das verstehe ich natürlich sofort und beeile mich, die Zigarettenschachtel aus meiner Tasche zu nesteln.
„Ah, Yak,” murmelt die Frau beifällig, und dann noch etwas anderes, wovon ich nur „Gaida” verstehe, aber da ich weiß, dass „Gaida” filterlose Zigaretten sind (fast so billig wie Beedies), während „Yak” (mit Filter) unter Touristen als die einzige nepalesische Sorte gilt, die man ohne Hustenanfall rauchen kann, kann ich mir denken, was sie gesagt hat. Ich bin jedenfalls froh, dass ihr meine Glimmstengel zusagen, biete allen davon an und nehme selbst eine.
Jede Nepali-Frau greift zu, aber nur die beiden Alten und eine der Jüngeren lassen sich von mir Feuer geben, die anderen zwei stecken sich ihre „Yak” hinters Ohr.
Warum hat die Lady wohl mich nach Zigaretten gefragt – und nicht die Nichtraucherin Inge? Ganz sicher wirke ich nicht ungesünder als meine Freundin, sondern momentan sehe ich aus wie das blühende Leben. Gerochen haben kann sie es eigentlich auch nicht; ich trage frische Kleidung und habe seit Stunden keine geraucht…
Eine Hexe, denke ich wieder.
Als sich die Frauen freundlich lächelnd verabschieden und weiterziehen, atme ich erleichtert auf und fühle mich, als hätte ich gerade eine schwierige Prüfung bestanden.
„Erstaunlich selbstbewusst, diese Frauen,” Inge ist fasziniert, „kannst du dir vorstellen, von einer ganz normalen Inderin — keiner Bettlerin, wohlgemerkt — auf der Straße wegen ‘ner Zigarette angeschnackt zu werden?”
„Nein, absolut nicht. Indische Frauen habe ich noch nicht einmal in der Öffentlichkeit rauchen sehen. Aber die gehen ja meist auch einen halben Meter hinter ihrem Mann, das würde so eine Nepali-Frau bestimmt nicht machen.”
Wir gehen noch ein Stück weiter am See entlang, aber schließlich kehren wir um. Auf dem Rückweg statten wir dem „Snowland Restaurant” einen Besuch ab und bestellen die vielgerühmten Rösti, die unseren Erwartungen gerecht werden und zartknusprig auf der Zunge zergehen.
Anschließend machen wir uns auf den Weg zum „New Green Lake Hotel” und kommen dort gerade noch rechtzeitig vor dem allabendlichen Stromausfall an.
26. September
Nach einem kleinen Frühstück lässt sich Inge im Hotel vier hartgekochte Eier bringen, die sie in („für unser Picknick!”) in ihrer Tasche verstaut.
Auf dem Weg zum Bootsverleih kaufen wir noch Brot, ein paar kleine Bananen und eine große Flasche Bier, und ich lasse meine in Delhi gekaufte Thermosflasche – ein herrlich kitschiges Ding, bedruckt mit in Bonbonfarben gehaltenen Portraits berühmter indischer Filmschauspieler – an einem Chai-Shop mit Milchtee auffüllen.
„Tschini tschaina”, sage ich, kein Zucker, und der alte Mann neben der Kochstelle sieht mich ungläubig an.
Mit beredten Gesten und wenigen englischen Worten versucht er mir klar zu machen, dass Tee ohne Zucker nichts taugt, und ich verstehe, dass er es nur gut mit mir meint. Zucker ist ein Energiespender und macht den Tee, ebenso wie das Milchpulver, nahrhafter – und da Zucker ja auch Geld kostet, gilt hier normalerweise: je süßer, desto besser.
Schließlich einigen wir uns darauf, dass er etwas Zucker in meinen Tee schütten darf, aber nicht soviel, wie er es üblicherweise zu tun pflegt.
Wenig später sitzen Inge und ich in einem Einbaum und versuchen, es vom Ufer weg in Richtung Seemitte zu manövrieren. Es ist schwerer zu steuern als eins der Paddelboote, mit denen meine Freunde und ich früher den Oberlauf der Alster unsicher gemacht haben, aber nach einigen Versuchen haben wir den Bogen schließlich raus und sind unterwegs zum gegenüberliegenden Ufer.
Je weiter wir uns vom Ufer entfernen, desto ruhiger wird es.
Außer unserem Einbaum sind bloß zwei oder drei Boote in weiter Ferne, am anderen Ende des Sees unterwegs, und bald hören wir nur noch das leise plätschernde Geräusch, das unsere Paddel machen, wenn sie die Wasseroberfläche durchstoßen. Ohne uns abgesprochen zu haben, legen Inge und ich die Paddel ins Boot, als wir die Mitte des Sees erreicht haben. Wir lassen uns treiben und genießen die Stille und die Schönheit um uns herum.
Mein Herz wird ganz weit vor Glück. Die ganze Welt scheint azurblau zu sein – nicht nur das ruhige Wasser, das den Himmel spiegelt, auch die Wolken, die Berggipfel, ja sogar die Bäume und bewaldeten Hügel rund um den See schimmern bläulich.
Inge lächelt selig und fragt: „Ist es nicht einfach himmlisch hier?”
„Ja, das ist es,” bestätige ich, „ich fühl mich wie im Himmel.”
Über uns ertönt ein melodischer Vogelruf. Ein großer weißer Reiher fliegt über unsere Köpfe hinweg zur anderen Seite des Sees.
Wir ergreifen die Paddel wieder und folgen ihm, umfahren eine Landzunge und landen in einer idyllischen kleinen Bucht mit einem winzigen, flachen Sandstrand, die von der belebten „Baidam”-Seite aus nicht einsehbar ist. Wenn wir wollten, könnten wir sogar nackt baden, denn außer einigen braunen Kühen, die oben am Hang grasen, ist hier kein Lebewesen zu sehen. Aber da der schmale Trampelpfad, auf dem die Kühe gekommen sind, theoretisch auch Zweibeiner in die Bucht führen könnte, verzichten wir darauf.
Nachdem wir uns im klaren, kühlen Wasser des Sees erfrischt haben, schlüpfen wir wieder in unsere Sachen und machen uns mit gesegnetem Appetit über unsere Verpflegung her.
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