20. August
„Heute werden wir in der Türkei essen gehen!” verspricht uns Rolf, als wir aufbrechen.
Am frühen Nachmittag ist es soweit – die griechisch-türkische Grenze liegt hinter uns, und in einer Art Cafeteria am Straßenrand kehren wir ein.
Praktischerweise kann man die Speisen am Tresen hinter einer Glasscheibe aussuchen. Ich zeige auf gefüllte Paprika, und als sie wenig später heiß und duftend auf dem Teller vor mir liegt, beschließe ich, dass türkisches Essen mindestens genauso gut ist wie das griechische. Wenn nicht sogar besser.
Gegen Abend fahren wir auf Istanbul zu, und ich kann nicht fassen, was sich da draußen auf der Straße abspielt. Es ist so etwas wie eine Autobahn, mehrspurig, megabreit, gut asphaltiert sogar – aber es sind Fußgänger darauf unterwegs!
Außerdem noch kleine Motorroller, Pferdekarren und alle möglichen Fahrzeuge, die man auf einer deutschen Autobahn nie zu Gesicht bekäme, aber was mich am meisten verblüfft, sind diese Leute, die – immer wieder zwischen den Spuren stehen bleibend – die „Autobahn” zu Fuß überqueren. Allerdings fahren die Autos auch relativ langsam, und die Fahrer scheinen ständig in Alarmbereitschaft zu sein und Ausschau den nach potentiellen Selbstmördern zu halten.
Es ist wohl doch keine richtige Autobahn, denn als wir der Stadt immer näher kommen, taucht plötzlich eine Ampel auf… um die sich offensichtlich niemand kümmert.
„Die war rot!” ruft Rosi erschrocken, als wir daran vorbei fahren.
Ohne den Blick von der Fahrbahn abzuwenden, antwortet Rolf achselzuckend: „Ja. Das ist Istanbul.”
Ein Blick zurück bestätigt, dass er sich einfach nur dem hier üblichen Fahrstil anpasst – alle fahren sehr vorsichtig und aufmerksam, aber Verkehrsregeln im mir bekannten Sinne scheint es nicht zu geben.
„Doch, die gibt es schon,” meint Rolf, als ich ihm meine Vermutung mitteile, „aber Niemand hält sich dran. Und Viele kennen sie wohl auch gar nicht.”
Er parkt den Bus mitten im historischen Stadtzentrum, im Viertel Sultanahmet, wo an einer Buskehre vor der Blauen Moschee schon Dutzende von – mit mehr oder weniger Aufwand zu „Wohnmobilen” umgebauten – Bussen und LKWs stehen.
Kaum ist der Motor des 608 abgestellt, da öffnet sich schon die Tür eines gelben, mit Rostschutzfarbflecken gesprenkelten Transporters (an der Seite ist noch die Aufschrift „Deutsche Post” zu erkennen), und der herausspringende, bärtige Insasse begrüßt Catherine und unseren Fahrer überschwänglich. Der erste Indienfahrer-Treffpunkt ist erreicht; dies ist einer der Orte, an denen Geschichten und Informationen ausgetauscht werden – zwischen den Leuten, die auf der Hinfahrt, und denen, die auf der Rückreise sind.
„So, Leute, das Restaurant da drüben,” Rolf zeigt auf die Ladenzeile auf der anderen Seite der Hauptstraße, „das ist der berühmte „Pudding Shop”. Da könnt ihr mich morgen Mittag treffen. Wir bleiben ein paar Tage in der Stadt, Genaueres weiß ich morgen. Jetzt hab’ ich aber erst mal Feierabend… Schnappt euch euer Gepäck und sucht euch ein Hotelzimmer!”
Rosi, Agnes, Inge und ich biegen hinter dem „Pudding Shop” rechts in eine schmale, abschüssige Gasse ein, weil wir dort eine preisgünstigere Unterkunft zu finden hoffen als direkt vorn an der Hauptstrasse.
Es wird dunkel, und wir geraten immer tiefer in das Viertel hinein, in dem es zahlreiche Möbeltischlereien und Teestuben, aber kaum Hotels oder Pensionen zu geben scheint.
Ich bin mittlerweile todmüde und deshalb froh, als wir an einer Hausecke ein schief hängendes „Hotel”-Schild entdecken. Rosi und Agnes gehen hinein und tauchen wenig später mit der frohen Botschaft wieder auf, sie hätten ein Vier-Bett-Zimmer gefunden, das umgerechnet nur sieben Mark kosten würde, also weniger als zwei Mark für Jede von uns!
Als wir das Zimmer betreten – das die Beiden sich (typischer Anfängerfehler!) vor dem Anmieten nicht angeguckt haben –, wird auch klar, warum. Es ist eine winzige, enge Kammer, in der zwei Etagenbetten, nein, ‑pritschen so dicht nebeneinander stehen, dass dazwischen kaum noch Platz für Gepäck ist. Selbstverständlich gibt es keine Dusche, nicht einmal ein Waschbecken; nur ein schmales WC im Flur, in dem es zwar nicht ganz so übel aussieht wie in den „Plumpsklos des Grauens” am Autoput – aber immer noch schlimm genug.
Wir sind so kaputt, dass wir beschließen, unsere erste Nacht in Istanbul in dieser Bruchbude zu verbringen. Morgen früh werden wir uns gleich etwas Anderes suchen.
Voll bekleidet liege ich auf meinem Schlafsack, den ich auf der dünnen, schmuddeligen Matratze ausgebreitet habe. Ich glaube, ich bin noch nie so schrecklich müde gewesen, aber ich kann trotzdem nicht einschlafen.
Es ist unerträglich warm und stickig in dem Kabuff; das kleine, vergitterte Fenster haben wir zwar weit geöffnet, aber die Luft steht trotzdem. Statt eines erfrischenden Hauchs dringt der Gestank von Abgasen, verbranntem Fett und fauligen Abfällen von der Strasse herein.
Offenbar sind alle umliegenden Läden noch geöffnet, und der Schein ungezählter Glühbirnen taucht unsere Schlafkammer in ein fahlgraues Licht. Dazu ist es irrsinnig laut – Autos hupen, Menschen schreien, mehrere Radios (oder Fernseher) versuchen, sich in punkto Lautstärke zu übertreffen.
Direkt unter unserem Fenster führt eine Gruppe Jugendlicher eine lärmende Unterhaltung, sie lachen laut und brüllen sich an, als hätten sie allesamt einen Gehörschaden.
Ich wälze mich hin und her, so gut das auf dieser schmalen, quietschenden Pritsche überhaupt geht, und glaube ständig, irgendwelche Krabbeltierchen auf meiner Haut zu spüren. Sehnsüchtig denke ich an die Nächte an dem griechischen Strand zurück, an die wunderbar milde, frische Seeluft, den klaren, weiten Sternenhimmel…
In mir wächst die Wut – auf die Verantwortlichen für die Zustände in diesem Loch, das sich „Hotel” zu nennen wagt, auf diese ganze laute, stinkende Stadt, und ganz besonders auf die keine zwei Meter Luftlinie neben mir krakeelenden türkischen Jungmänner.
Irgendwann, ich weiß nicht, ob zwei oder drei Stunden vergangen sind, halte ich es einfach nicht mehr aus. Der Lärmpegel ist nur minimal gesunken, ich kann nicht schlafen, mir ist schlecht, ich bin verschwitzt und klebrig, und mein Brustkorb fühlt sich an wie in ein zu enges Korsett gezwängt. Ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.
Auf der Pritsche hingekauert, rolle ich meinen Schlafsack zusammen und packe ihn ein. Dann zerre ich meinen Koffer unter dem Bett heraus und mein Gepäck zwischen den beiden Etagenbetten hindurch zur Tür.
Rosi murmelt im Schlaf, als ich ihre Matratze streife.
Ich verlasse das „Hotel” und wandere schwer bepackt durch das nächtliche Istanbul, den Schlafsack in der linken, meinen Koffer in der rechten Hand.
Es muss schon nach Mitternacht sein, aber in den Gassen tobt immer noch das Leben – ausschließlich männliches Leben, wie mir nach wenigen Minuten klar wird.
Offenbar bin ich die einzige Frau, die hier um diese Zeit noch unterwegs ist. Die grüppchenweise vor Teestuben und Hofeinfahrten sitzenden oder umherschlendernden Männer kommentieren das mit gezischelten Bemerkungen und Zurufen, die ich zwar nicht verstehe, deren Anzüglichkeit aber aus dem Tonfall und dem darauffolgenden Gelächter deutlich wird.
Den Blick gesenkt, damit sich ja keiner der Typen zu mehr als dummen Sprüchen ermutigt fühlt, biege ich an der nächsten Ecke links ab und gehe eine schmale Straße hinauf (da wir vorhin ja bergab gegangen sind, werde ich so hoffentlich wieder ins Zentrum kommen…).
Als die Gasse dann jedoch nicht zur normal breiten Straße, sondern eher noch enger, düsterer und so langsam auch stiller wird, muss ich mich der Erkenntnis stellen, dass ich mich wohl verlaufen habe. Erste Angstschauer kriechen mir den Rücken hoch, aber ich beschließe, sie ebenso zu ignorieren wie die Sprüche und Rufe der Männer, und stapfe weiter bergauf.
Da werde ich plötzlich an den Schultern gepackt; ein Typ hat sich vor mir in den Weg gestellt und hält mich fest, redet mit heiserer, drängender Stimme auf mich ein. In blanker Panik hebe ich den Kopf und starre ihm ins Gesicht – und sehe, dass es kein Türke ist, sondern ein Westeuropäer (oder Amerikaner) mit langem, strähnigen Haar, ein magerer, blasser Junkie mit unruhig flackerndem Blick.
Jetzt verstehe ich auch, was er redet; er erklärt mir auf englisch, dass er ausgeraubt worden ist und – was sonst? – ganz dringend etwas Geld benötige.
Er hat definitiv am falschen Ort und zum falschen Zeitpunkt die falsche Person angesprochen.
Der ganze Zorn und die Angst, die sich in den letzten Stunden in mir aufgestaut haben, ergießen sich über den bedauernswerten Kerl. „Piss off, you bloody fucking bastard!” brülle ich ihm so laut ins Gesicht, dass das Gemurmel einiger am Straßenrand herumstehender Türken schlagartig verstummt, sich alle Köpfe in unsere Richtung drehen und der Typ mich erschrocken loslässt, als hätte er sich die Finger verbrannt.
Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, trotte ich weiter.
Zwar scheint mein Koffer von Minute zu Minute schwerer zu werden, und ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten, aber wenigstens ist die Angst von mir abgefallen. Die wenigen Türken, die sich noch draußen aufhalten, sind von einer möglichen Bedrohung zu potentiellen Verbündeten geworden. Nach dem Erlebnis eben bin ich mir ziemlich sicher, dass mir zumindest Einige von ihnen zu Hilfe gekommen wären, wenn der Junkie mich auszurauben versucht hätte.
Als wäre diese Erkenntnis der Schlüssel für einen Ausgang aus diesem Alptraum, taucht hinter der nächsten Biegung die Hauptstrasse und dahinter die Blaue Moschee auf.
Doch in allen Restaurants und Hotels ist es schon dunkel. Ratlos stehe ich auf dem Bürgersteig vor dem geschlossenen „Pudding Shop”.
Mir fällt nichts Besseres ein, als hinüber zum 608 zu marschieren und – erst zaghaft, dann kräftiger – an die Beifahrertür zu klopfen. Es dauert einen Moment, bis sie von einem ziemlich verärgert und zersaust aussehenden Rolf geöffnet wird. Er hat offensichtlich schon geschlafen.
Bevor er losmotzen kann, erzähle ich ihm hastig von meiner Klaustrophobie-Attacke in dem Hotelzimmer und meiner Nachtwanderung quer durch Istanbul und bitte ihn inständig, mich im Bus schlafen zu lassen. „Ich leg mich einfach vorn hinter die Sitzbank, es ist ja nur für heute nacht – bitte, bitte!” Ich bin kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Er guckt schon etwas besänftigt, und als dann auch noch Catherine von hinten ruft „Nun lass sie schon rein, um diese Zeit kriegt sie ja wirklich kein Zimmer mehr!”, tritt er beiseite und lässt mich einsteigen.
Ich rolle schnell meinen Schlafsack auf dem Wagenboden aus und schlüpfe hinein.
Bevor ich in ohnmachtartigem Schlaf versinke, höre ich Rolf noch grummeln, wenn er nicht am Steuer säße, wäre der Bus nun mal sein „Zuhause”, und er sei unser Fahrer, nicht unser Kindermädchen… Aber mir ist vollkommen egal, wie genervt er gerade von mir ist – solange ich nur den Rest der Nacht in seinem Bus verbringen darf.