26. August
Es MUSS ein Sumpf oder Flussdelta in unmittelbarer Nähe sein, denn in der Nacht sind Schwärme von – offenbar besonders großen und blutrünstigen – Mücken über uns hergefallen.
Außer Rosi und Ulli sehen wir alle aus, als hätten wir die Windpocken oder Masern.
Rosi hat sich bestimmt vor dem Schlafengehen vorsorglich mit irgendeiner chemischen Keule eingeschmiert, deren Geruch auch viel größere Tiere als Moskitos in die Flucht geschlagen hätte…
Aber Ulli, unser Miso-mampfender, biologisch-dynamischer Ökofreak?
Als ich ihn nach dem Geheimnis seiner Unversehrtheit frage, sagt er: „Nelkenöl. Den Geruch mögen Mücken gar nicht. Es lindert übrigens auch den Juckreiz, wenn man schon gestochen wurde…”
Mitleidig reicht er mir ein kleines braunes Fläschchen.
Ich schütte gleich etwas von dem Inhalt in die hohle Hand und reibe mein juckendes Gesicht damit ein… Und stürme im nächsten Moment aufjaulend zum Ufer, um das Zeug mit viel Meerwasser wieder abzuspülen – ich spüre jetzt zwar kein Jucken mehr, doch dafür brennt meine Haut wie Feuer!
„Meine Güte, Paula,” sagt Ulli kopfschüttelnd, als ich leise jammernd und mit hochroter Visage zurückkomme, „das ist ein hochkonzentriertes ätherisches Öl! Das musst du dir auf die einzelnen Stiche tupfen, damit schmiert man sich doch nicht das ganze Gesicht ein!”
„Na ja, das Jucken hat jedenfalls restlos aufgehört,” antworte ich – und schaffe es sogar, mein schmerzenden Gesichtszüge zu einem schiefen Lächeln zu verzerren.
Ulli lächelt nicht. Grummelnd verstaut er das Fläschchen wieder in seiner Umhängetasche.
Es hat den Anschein, als ob er– angesichts meines verschwenderischen Umgangs mit der kostbaren Essenz – seinen Anfall von Mitgefühl schon bereut.
Aber ich wusste nun mal nicht, dass „Nelkenöl” kein Pflegeöl mit lieblichem Nelkenduft, sondern eine so beißend scharfe Flüssigkeit ist!
Heute morgen hat Rolf es überhaupt nicht eilig.
Nach dem ausgedehnten Frühstück meint er, er werde erst gegen Mittag „oder so” losfahren; wer wolle, könne also noch mal ins Meer springen.
„Das ist vorerst die letzte Gelegenheit, Badehose, Badeanzug oder Bikini anzuziehen,” erklärt er. „Das nächste Mal geht das erst wieder am Pool des „Hotel Imperial” in New Delhi – und in Delhi sind wir, wenn alles glatt geht, frühestens in drei Wochen.”
Trotz dieser Erklärung verspüre ich keine große Lust, in dem aufgewühlten, trüben Wasser schwimmen zu gehen.
Stattdessen hüpfe ich wirklich nur ganz kurz hinein, um Schweiß und Staub abzuspülen (vorher vergewissere ich mich, dass es keine glotzenden Zuschauer gibt) und räume dann meinen Koffer auf, den ich in Istanbul ziemlich hastig und planlos vollgestopft hatte.
Anschließend setze ich mich in den Schatten des Busses und schreibe einen Brief an meine Eltern – von dem ich allerdings noch nicht weiß, wann und von wo ich ihn werde abschicken können.
Kurz vor zwölf fahren wir schließlich weiter, und hinter der Hafenstadt Trabzon geht es in südöstlicher Richtung landeinwärts.
Ich verstehe immer besser, warum unser Fahrer am Morgen so wenig Lust hatte, aufzubrechen: die asphaltierte Küstenstraße verwandelt sich nach und nach in eine staubige Schotterpiste, die das Steuern des Busses zu einer anstrengenden, höchste Konzentration erfordernden Angelegenheit macht, die Landschaft wird karg und unwirtlich, und die Leute hier lächeln nicht mehr (gast-)freundlich beim Anblick von Fremden.
Als wir hinter der „modernen”, von hässlichen Beton-Neubauten geprägten (da immer wieder von Erdbeben heimgesuchten…) Stadt Erzurum in einer kleinen Ortschaft anhalten, weil es dort einen Laden, eine Tankstelle und vermutlich auch eine Toilette gibt, dreht sich unser Fahrer um und deutet auf Inge in ihren Jeans-Shorts und dem ärmellosen T‑Shirt.
„So kannst du hier nicht rumlaufen,” sagt er streng, „zieh dir was über. Ich habe keine Lust, wegen dir ein Messer zwischen die Rippen zu kriegen. Ab hier sind nackte Beine und entblößte Oberarme absolut tabu – übrigens auch für uns Männer. Wir werden zwar nicht belästigt, aber dafür ausgelacht, wenn wir in kurzen Hosen aufkreuzen; so etwas tragen hier nämlich nur kleine Jungs.”
„Und noch etwas, das ist ganz wichtig,” fügt er hinzu. „Wenn ihr Mädels zum Klo geht, bitte immer mindestens zu zweit, besser noch zu dritt. Und alle warten vor der Tür, bis die Letzte fertig ist, o.k.? Einer Bekannten von Catherine ist hier auf einer Toilette nämlich mal eine Geschichte zugestoßen – die wollt ihr gar nicht wissen.”
Stimmt.
Ich will wirklich keine Horrorstorys über Vergewaltigung im schmuddeligen Plumpsklo hören, ich fühle mich auch so schon unbehaglich genug…
Wir Frauen warten also, bis Inge eine lange Hose und ein die Oberarme bedeckendes Shirt übergezogen hat, und trotten dann als Kolonne zu der Toilette hinter dem Haus. Natürlich entspricht sie nicht westlichen Standards, aber zumindest läßt sie sich trockenen Fußes erreichen, und es gibt sogar ein Waschbecken und fließendes Wasser. Dass wir das stille Örtchen als Gruppe aufgesucht haben, erweist sich schon deshalb als sinnvoll, weil die Schwingtüren im Eingang (sie ähneln denen in einem Western Saloon) nicht abschließbar sind.
Allein die Tatsache, dass wir mit einem Bus unterwegs sind, statt auf einem der hier weitaus häufiger vorkommenden Eselskarren oder Trecker – und dann auch noch in einem Bus mit großem Mercedes-Stern auf dem Kühler! – scheint in dieser Gegend Anlass für extrem feindselige Blicke zu sein. Die Jungen, die kurz hinter dem Dorf am Rand der Strecke auftauchen (die hier kaum noch die Bezeichnung Straße verdient…), begnügen sich auch nicht mit Blicken. Sie bewerfen unser Fahrzeug mit Lehmklumpen und Steinen.
Zwar schafft Rolf es, den 608 heil durch den Hagel von Wurfgeschossen zu steuern, aber nur wenig später – gerade ist ein entgegenkommender, vollkommen überladener Lastwagen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit an uns vorbei gerumpelt – ist ein lauter Knall und das knisternde Geräusch einer zerfallenden Sicherheitsglasscheibe zu hören.
Alle gucken entsetzt nach vorn: große Teile der Windschutzscheibe haben sich aus dem Rahmen gelöst und in Form kleiner Glaswürfel im vorderen Teil des Wagens verteilt.
Der 608 kommt kurz ins Schlingern, und unser Fahrer brüllt wilde Flüche in drei bis vier verschiedenen Sprachen, fährt aber erst einmal weiter, ohne die Geschwindigkeit zu verringern. Erst zehn Minuten später, als sich rechts und links der Piste nur noch menschenleeres, flaches Land erstreckt, hält er an, um die Reste der Scheibe herauszubrechen und die auf den Armaturen, dem Boden und den Sitzen verstreuten Glaswürfel zusammenzukehren.
Ob der Brocken, der uns die Frontscheibe kostete, nun von den Rädern des vorbeirasenden LKWs hochgeschleudert oder gezielt von einem versteckten Steinewerfer geschmissen wurde, werden wir nie erfahren.
Rolf zieht es vor, an einen unglücklichen Zufall zu glauben, und wir folgen seinem Beispiel.
Tatsache ist, dass es in einem Bus ohne Windschutzscheibe, der durchs anatolische Hochland fährt, auch im Hochsommer ziemlich schnell kühl wird. Je tiefer die Sonne sinkt, desto mehr Kleidungsstücke werden aus den Koffern und Rucksäcken hervorgeholt – und, da wir fast nur leichte Textilien im Gepäck haben, in mehreren Schichten übereinander angezogen. Unser Fahrer hat von seiner letzten Tour nach Nepal noch eine gefütterte Jacke, Handschuhe und eine Wollmütze dabei.
Der Anblick der Landschaft, die wir jetzt durchfahren, entschädigt einen aber für den Schrecken und das Frösteln, finde ich.
Das hier ist definitiv nicht mehr Europa!
Es dämmert, und die Gegend um uns herum wird immer einsamer.
Die wenigen Autos, die uns noch begegnen oder die wir gelegentlich überholen, gehören meist türkischen bzw. kurdischen Gastarbeitern, erkennbar an den deutsche Kennzeichen.
Oft sind sie derart schwer beladen mit auf dem Dach und im offenen Kofferraum gestapelten Kühlschränken, Sesseln, Matratzen und allerhand Haushaltswaren, dass man sich fragt, wie ganz normale PKW-Achsen den langen Heimtransport dieser in Deutschland erworbenen Geräte und Möbel überstehen konnten.
„Kamele!” ruft Rosi aufgeregt.
„Nein, das sind Dromedare”, behauptet Agnes.
Es entspinnt sich eine Debatte darüber, welche Tierart eigentlich die mit nur einem Höcker, und welche die mit zweien ist. Und überhaupt, hatten die Viecher da eben nun einen Höcker oder doch zwei – mit „Gepäck” dazwischen?
Rolf unterbricht diese Diskussion.
„Wenn die Damen und Herren bitte mal nach links hinüber schauen würden: der Berg da mit dem Schnee auf der Spitze ist der Ararat.”
„Ist das nicht der Berg, auf dem angeblich Noah mit der Arche gelandet ist?” staune ich.
„Ja, genau der.”
„Na so was. Ich hab’ immer geglaubt, der wäre irgendwo in Palästina, bei den anderen Schauplätzen des Alten Testaments – nicht hier, in der Türkei…”.
Leider ist der Film in meiner Kamera gerade voll, als wir den legendären Fünftausender passieren. Aber auch ohne den Ararat finde ich die Landschaft spektakulär und lege einen neuen Film ein, um sie im Glanz der letzten Sonnenstrahlen zu fotografieren.
<p<
Als der Mond am Horizont erscheint, fahren wir auf den östlichsten Gebirgszug der Türkei zu; dahinter erwartet uns der Iran.
Weit und breit scheint es kein Lebewesen außer uns und kein Fahrzeug außer dem 608 zu geben; Straße, Land und Himmel sind in ein bläuliches Dämmerlicht getaucht. Wunderschön… Nur die Tatsache, dass es jetzt, nach Sonnenuntergang, in unserem frontscheibenlosen Bus wirklich saukalt wird, bewahrt einen davor, vollkommen in träumerischen Fantasien zu versinken.
Rolf will die Nacht durchfahren, und bei einem kurzen Stopp treffen wir letzte Vorbereitungen dafür: die große Thermoskanne wird mit heißem Kaffee aufgefüllt, sämtliche Schlafsäcke und Decken werden hervorgeholt und alle auch nur einigermaßen wärmenden Klamotten übergezogen.
„Der Beifahrersitz muss während der ganzen Nacht besetzt sein,” verlangt Rolf, „ich brauche hier vorn jemanden, der mir den Kaffeebecher füllt und die Zigaretten anmacht…”
Da Catherine schon jetzt gähnt und erklärt, sie habe letzte Nacht miserabel geschlafen, Rosi und Agnes als Nichtraucherinnen für’s Zigarettenanzünden nicht in Frage kommen und von den übrigen Passagieren auch niemand auf diesen Job im eisigen Fahrtwind erpicht zu sein scheint, erkläre ich mich bereit, ihn zu machen.
Inge verspricht: „Du kannst mich wecken, wenn du müde wirst. Dann löse ich dich ab.”
Rolf kommt mit seinem dicken Daunenschlafsack unterm Arm nach vorn.
„Ich wette, du hast vergessen, einen Ski-Anzug einzupacken,” grinst er und gibt mir das gute Stück. „Da musst du dann wohl hier hinein schlüpfen.”.
Als es weitergeht, sitze ich also in einem bis unter die Achseln hochgezogenen Schlafsack auf dem Beifahrersitz, Kopf und Schultern in ein weiches Wolltuch (von Anna) gewickelt, und sorge dafür, dass unser Fahrer möglichst ununterbrochen beide Hände am Steuer lässt – was bei diesen Straßenverhältnissen auch sehr ratsam ist.
Der Motor dröhnt und der Wind rauscht, und wenn Rolf einen Schluck Kaffee oder eine angezündete Zigarette will, muss er es mir halb schreiend mitteilen.
Dennoch fange ich schnell an, die Fahrt sehr zu genießen – in dem wattierten Schlafsack ist mir mollig warm, und die hohen Berge und steilen Schluchten, an denen sich die Straße entlang schlängelt, sehen im silbernen Licht des Mondes phantastisch aus.
Die anderen Passagiere schlafen und wissen gar nicht, was ihnen entgeht, und Rolf muss sich aufs Fahren konzentrieren, so dass er kaum einen Blick für die magisch illuminierte Gebirgslandschaft herum übrig hat.
Der einzige Mensch weit und breit, der die Muße und die Gelegenheit hat, ihre ganze Schönheit zu würdigen, bin ich. Und deshalb fühle ich mich als Königin dieser Nacht – einer klaren Vollmondnacht in den Bergen Ost-Anatoliens…