2. Sep­tem­ber

Am nächs­ten Vor­mit­tag zie­he ich allein los, den Inge hat fest­ge­stellt, dass sie drin­gend Wäsche waschen muss. Das wäre zwar auch bei mir mal wie­der fäl­lig, aber zuerst will ich die Prei­se für Stie­fel in Erfah­rung brin­gen und even­tu­ell ein Paar in Auf­trag geben.

Als ich an der Sei­ten­stra­ße vor­bei­kom­me, in der sich der Laden mit dem tür­kis­grü­nen Trink­glas befin­det, bie­ge ich ein und blei­be von dem klei­nen Schau­fens­ter stehen.

Ich spä­he durch die trü­be Schei­be, um zu sehen, ob in der Aus­la­ge viel­leicht noch ande­re, ähn­li­che Glä­ser ste­hen. Doch ich kann kei­ne ent­de­cken – nur den auf sei­nem Kis­sen thro­nen­den­den Laden­in­ha­ber, der mir zuwinkt, ich möge doch hereinkommen.

Ich schüt­te­le lächelnd den Kopf und mache eine vage Hand­be­we­gung in Rich­tung Haupt­stras­se, um anzu­deu­ten, dass ich gleich wei­ter will.

Er soll bloß nicht glau­ben, ich sei wegen sei­nes Gla­ses gekom­men – das wür­de den Preis bestimmt in noch uner­schwing­li­che­re Höhe treiben.

Als ich mich gera­de von dem mit hoch­in­ter­es­san­ten Din­gen gefüll­ten Schau­fens­ter los­rei­ßen will, spü­re ich, wie sich eine Hand auf mei­nen Hin­tern legt.

Ich fah­re her­um wie von der Taran­tel gesto­chen und las­se mei­ne übli­che, laut­star­ke deutsch-eng­li­sche Schimpf­ti­ra­de vom Stapel.

Der jun­ge Afgha­ne, der sich ange­schli­chen hat, um mich zu begrab­schen, weicht zwei Schrit­te zurück, sieht mich aber mehr trot­zig als ein­ge­schüch­tert an.

Mir fällt der schub­sen­de Per­ser ein, der mich an der tür­kisch-ira­ni­schen Gren­ze schla­gen woll­te, und ich habe plötz­lich einen Kloß im Hals – was, wenn es auch hier­zu­lan­de als das Recht eines Man­nes ange­se­hen wird, unver­schlei­er­te (und „nur” mit T‑Shirt und lan­ger Hose beklei­de­te) Frau­en der­art respekt­los zu behandeln?

Ich las­se mei­nen Blick umher­schwei­fen, und was ich sehe, ist nicht gera­de ermu­ti­gend. Die ‘Shar-I-nau’ ist zwar in Sicht- und Ruf­wei­te, aber unter den weni­gen Pas­san­ten kann ich kei­ne west­li­chen Tou­ris­ten aus­ma­chen; offen­bar sind zu die­ser frü­hen Stun­de aus­schließ­lich afgha­ni­sche Män­ner unterwegs.

Bevor aber aus mei­nem beklom­me­nen Gefühl rich­ti­ge Angst wird, erhal­te ich uner­war­te­te Unter­stüt­zung – hin­ter mir ertönt laut und empört die Stim­me des alten Ladenbesitzers.

Er hat steht in der geöff­ne­ten Tür und hält dem jun­gen Mann einen ent­zürn­ten Vor­trag auf Dari, den ich anhand sei­ner aus­drucks­star­ken Ges­tik und Mimik so deute:

Ich sehe viel­leicht nicht so aus, wie eine anstän­di­ge afgha­ni­sche Frau aus­zu­se­hen hat, aber ich bin ja auch kei­ne afgha­ni­sche Frau, son­dern zu Gast in ihrem Land – in dem Gast­freund­schaft, das hat man mir erklärt, eine Sache der Ehre und hoch geach­te­te Tugend ist!

Als der Laden­be­sit­zer auf mich deu­tet und dem Übel­tä­ter mit schnei­den­der Stim­me eine (offen­bar rhe­to­ri­sche) Fra­ge stellt – viel­leicht, ob er wirk­lich errei­chen wol­le, dass ich nach mei­ner Rück­kehr in mein Hei­mat­land dort afgha­ni­sche Män­ner als ehr­lo­se Grab­scher schil­de­re? – scheint die­ser um meh­re­re Zen­ti­me­ter zu schrumpfen.

Er zieht die Schul­tern hoch, blickt zu Boden und mur­melt fast unhör­ba­re Ent­schul­di­gun­gen. Den alten Herrn spricht er mit „Had­ji” an, was die­sen als Mek­ka-Pil­ge­rer und beson­ders ange­se­he­ne Respekts­per­son ausweist.

Nach­dem der ein­ge­schüch­ter­te Jüng­ling von dan­nen gezo­gen ist, bedan­ke ich mich ehr­erbie­tig bei mei­nem Retter.

Mit geneig­tem Kopf gibt er mir durch Ges­ten lächelnd zu ver­ste­hen, sein Ein­grei­fen sei eine Selbst­ver­ständ­lich­keit gewesen.

Zurück auf der Haupt­stras­se, steue­re ich sofort den Laden an, des­sen Inha­ber Inge und mir ges­tern von sei­ner däni­schen Freun­din erzählt hat.

Jetzt habe ich das Bedürf­nis, mit jeman­dem zu kom­mu­ni­zie­ren, der eine mir geläu­fi­ge Spra­che spricht.

Moham­mad strahlt über das gan­ze Gesicht, als er mich sieht.

Pola – what a nice sur­pri­se! Plea­se come in! Would you like to have a tea?”

Tee wäre abso­lut phan­tas­tisch, erklä­re ich, aber ist das denn nicht etwas pro­ble­ma­tisch – immer­hin ist doch Rama­dan?

Moham­mad macht eine weg­wer­fen­de Geste.

Ich sei doch kei­ne Mus­li­ma, war­um also soll­te ich kei­nen Tee trinken?

Außer­dem, fügt er mit spitz­bü­bi­schen Grin­sen hin­zu, gibt es in sei­nem Laden ja die­sen etwa vier Meter lan­gen, hohen Ver­kaufs­tre­sen. Es wäre ganz rei­zend, wenn ich ein­fach dahin­ter Platz neh­men wür­de… Dort kön­ne mich näm­lich nie­mand sehen.

Er schickt einen Jun­gen los, der nach weni­gen Minu­ten mit einem Tablett zurück­kehrt, auf dem sich eine klei­ne Kan­ne, ein Glas und eini­ge in Papier ein­ge­pack­te Zucker­wür­fel befin­den. Und ich las­se mich hin­ter dem Tre­sen nie­der, wo meh­re­re Sitz­kis­sen lie­gen – offen­bar wird die­se für Pas­san­ten und Kun­den nicht ein­seh­ba­re Rück­zugs­mög­lich­keit des öfte­ren genutzt – und genie­ße den hei­ßen, wür­zi­gen Trank.

Moham­mad lehnt sich läs­sig an das Ende des Tre­sens, wo er sich mit mir unter­hal­ten und gleich­zei­tig den Laden im Blick behal­ten kann.

Als ich von mei­nem Erleb­nis berich­te, schüt­telt er beküm­mert den Kopf.

Alles, was sol­che jun­gen Ker­le über „wes­tern women” zu wis­sen glau­ben, stam­me aus Illus­trier­ten wie dem „Play­boy”, die voll wären mit Bil­dern ein­la­dend wir­ken­der nack­ter Frau­en, erklärt er mir.

Sol­che Hoch­glanz-Maga­zi­ne wür­den hin­ter den Rücken der Älte­ren eif­rig getauscht und ver­schlun­gen, und die­se Lek­tü­re füh­re im Fall schlicht gestrick­ter Gemü­ter dann zu der Ansicht, unver­schlei­er­te Frau­en aus west­li­chen Län­dern sei­en ganz wild dar­auf, sich von jedem Mann beglot­zen und begrab­schen zu lassen…

Dass der ehr­wür­di­ge Had­ji sich über das unge­bühr­li­che Ver­hal­ten des jun­gen Man­nes so auf­ge­regt hat, kann Moham­mad sehr gut nach­voll­zie­hen; es sei ihm wahr­schein­lich unend­lich pein­lich gewe­sen, dass ich Opfer einer der­ar­ti­gen Grab­sch-Atta­cke wur­de – und dann auch noch aus­ge­rech­net vor sei­nem Laden!

Ja, bei­na­he wäre ich auch sei­ne Kun­din gewor­den, füge ich hin­zu und erzäh­le von unse­rem ers­ten Besuch die­ses Geschäf­tes und von dem grü­nen Glas.

Moham­mad schmunzelt.

Er zeigt auf die ange­lau­fe­nen Mes­sing-Tabletts und Scha­len, die neben der Ein­gangs­tür ste­hen, und sagt: „Look, the­re is not one artic­le, which looks like another…”

Dann lüf­tet er den Vor­hang vor einem Regal unterm Tre­sen: „… becau­se the others are there.”

Tat­säch­lich sta­peln sich dort diver­se Tabletts und fla­che Scha­len der­sel­ben Mach­art, mit den glei­chen Mus­tern und den glei­chen Spu­ren des Alters.

They look, as if they are very old, don’t they? But they were made just a few weeks before!”

Er erläu­tert mir, wie die Metall­ob­jek­te mit hei­ßer Asche, Teer und manch­mal auch Dung behan­delt wer­den, um jene „anti­ke” Pati­na zu erzie­len, auf die die aus­län­di­sche Kund­schaft ganz wild sei.

Wenig spä­ter betre­ten drei Tou­ris­tin­nen mitt­le­ren Alters den Laden, beklei­det mit bun­ten Batik-Tuni­ken und behängt mit Hals­ket­ten aus schwe­rem, mit Halb­edel­stei­nen besetz­ten Sil­ber, wie ich sie im „Gro­ßen Basar” von Istan­bul gese­hen habe.

Die Frau­en, die anhand ihrer gedehn­ten Aus­spra­che unschwer als Ame­ri­ka­ne­rin­nen zu erken­nen sind, plau­dern nicht nur über Moham­mads Waren­an­ge­bot, son­dern unter­hal­ten sich auch unge­niert dar­über, was für ein „pret­ty young man” er sei. Offen­bar hal­ten sie es für aus­ge­schlos­sen, dass die­ser ‘hüb­sche jun­ge Mann’ über genü­gend Eng­lisch­kennt­nis­se ver­fügt, um ihr Gespräch ver­ste­hen zu können.

Und in der Tat scheint Moham­mad plötz­lich nicht mehr imstan­de zu sein, einen kom­plet­ten Satz in Eng­lisch zu for­mu­lie­ren. Er hat auf ein­mal einen schau­der­haf­ten Akzent, beschränkt sich dar­auf, Reiz­wor­te wie „old” und „very very old” her­vor­zu­sto­ßen, und beant­wor­tet Fra­gen nach Prei­sen mit Anga­ben wie „peif – zero — zero, very very cheap” – obgleich er im Export-Busi­ness wohl kaum eine Chan­ce hät­te, wenn ihm nicht ein­mal das eng­li­sche Wort für die Zahl 500 geläu­fig wäre.

In mei­nem Ver­steck hin­ter dem Tre­sen ver­su­che ich, ganz flach und ruhig zu atmen.

Ich pres­se die Lip­pen fest zusam­men, um nicht los­zu­prus­ten, und spit­ze die Ohren, um ja nichts von dem idio­tisch klin­gen­den Gebrab­bel zu ver­pas­sen, mit dem Moham­mad eine schwarz ange­lau­fe­ne, mit unech­ten Tür­ki­sen besetz­te Mes­sing­scha­le („very good, very old”) anpreist.

Die Damen haben bereits fest­ge­stellt, dass es von die­sem Schäl­chen nur ein ein­zi­ges Exem­plar gibt, und unter­hal­ten sich halb­laut dar­über, dass die­ser hüb­sche jun­ge Ver­käu­fer ver­mut­lich gar nicht weiß, was er da für eine Kost­bar­keit in Hän­den hält.

I give you 250 Afgha­nis, two – five – zero,” sagt die eine schließ­lich in ener­gi­schem Ton. Von Moham­mad höre ich ein Äch­zen; ich sehe förm­lich vor mir, wie er mit den Augen rollt und sein Gesicht zu einer jam­mer­vol­len Gri­mas­se verzieht.

Wahr­schein­lich kriegt die Spre­che­rin ein ganz schlech­tes Gewis­sen ange­sichts sei­nes Lei­dens, denn als er schließ­lich „four – peif – zero” röchelt, stimmt sie sofort zu.

Ihre Beglei­te­rin­nen haben sich der­weil Blu­sen aus plis­sier­tem Bur­ka-Stoff und bun­te Tücher aus­ge­sucht und bezah­len wider­spruchs­los die ver­lang­ten Prei­se, ohne auch nur den Ver­such zu unter­neh­men, nied­ri­ge­re auszuhandeln.

Die Käu­fe­rin der „anti­ken” Mes­sing­scha­le kann es sich dann auch nicht ver­knei­fen, ihnen das vorzuhalten:

You should bar­gain,” belehrt sie ihre Freun­din­nen beim Hinausgehen.

Look, I’ve got this beau­tiful thing for fif­ty Afgha­nis less!”

Als sie weg sind, muss ich mich nicht mehr zusam­men­rei­ßen und kiche­re los.

That was fun­ny,” sage ich zu Moham­mad, der wie­der am Tre­sen lehnt.

Er scheint ande­rer Mei­nung zu sein.

It was bor­ing,” meint er und zieht eine Grimasse.

Sol­che Kun­den bräch­ten zwar Geld in die Kas­se, aber ihnen etwas teu­er zu ver­kau­fen, sei lang­wei­lig – weil es zu leicht sei.

Ich ver­ste­he: wenn man Feil­schen als eine Art Sport ansieht, dann war das eben ein Wett­kampf unter höchst unfai­ren Bedin­gun­gen, in dem ein alter Hase mit Meis­ter­ti­tel gegen ein paar blu­ti­ge Anfän­ger antre­ten musste…

Er nimmt ein neu­es, alt aus­se­hen­des Schäl­chen mit grü­nen Glas-Tür­ki­sen aus dem Regal, und ich fra­ge ihn, was das Ding denn nun wirk­lich wert sei.

Five­hund­red Afgha­nis – it is very old, myla­dy, many hundred years old…” lei­ert er her­un­ter, und der Schalk blitzt in sei­nen Augen.

Dann erteilt er mir eine Lek­ti­on im Feil­schen, an deren Ende sich her­aus­stellt, dass die ame­ri­ka­ni­sche Tou­ris­tin – hät­te sie die Kunst des Han­delns wirk­lich beherrscht – ihr Sou­ve­nir auch für weni­ger als hun­dert Afgha­nis (zwei Dol­lar) bekom­men hät­te. Und für ihn wäre da immer noch eine gute Han­dels­span­ne drin gewesen…

Die nächs­ten Kun­den, bei denen ich Mäus­chen spie­le, sind ein fran­zö­si­sches Paar, und die zwei haben’s drauf. Obwohl sie – wie die meis­ten Fran­zo­sen, die man auf der Stre­cke nach Indi­en trifft – kaum Eng­lisch spre­chen (und das weni­ge mit star­kem Akzent), feil­schen sie so tem­pe­ra­ment­voll und wort­reich um den Preis eines Sil­ber­rin­ges, als hät­ten sie schon ihr Leben lang all ihre Ein­käu­fe auf die­se Art erledigt.

Es ist nicht zu über­hö­ren, dass Moham­mad an sol­chen Ver­kaufs­ver­hand­lun­gen weit mehr Spaß hat. Als die Bei­den schließ­lich mit einem hüb­schen Ring zum güns­ti­gen Preis zufrie­den abzie­hen, ver­ab­schie­det er sie wie alte Freunde.

Gut­ge­launt kommt er hin­ter den Tre­sen getän­zelt und lässt sich auf eins der Sitz­kis­sen fallen.

Der Ring sei wirk­lich ein beson­ders schön gear­bei­te­tes Stück gewe­sen, erklärt er, und dass es ihn sehr freue, dass er ihn an zwei ech­te Ken­ner ver­kau­fen konnte.

Da erst fällt mir wie­der ein, wes­halb ich eigent­lich in die Stadt gekom­men bin.

Ich fra­ge ihn, ob es mög­lich sei, sich in nur drei Tagen ein Paar Stie­fel anfer­ti­gen zu las­sen, und wenn ja, was das dann wohl kos­ten würde.

Doch, ja, drei Tage müss­ten aus­rei­chen, meint Moham­mad, und den Preis schätzt er auf etwa vier­hun­dert Afgha­nis. Wir könn­ten gleich mal fra­gen gehen, schlägt er vor, ein paar Häu­ser wei­ter gebe es eine Schus­ter­werk­statt. Er ken­ne die bei­den Schuh­ma­cher, sie wür­den gut und sorg­fäl­tig arbeiten.

Das las­se ich mir natür­lich nicht zwei­mal sagen.

Ich hat­te mich ohne­hin schon gefragt, wie ich dem Schus­ter eigent­lich mei­ne Vor­stel­lun­gen erläu­tern soll – denn damit, dass ein afgha­ni­scher Hand­wer­ker flie­ßend eng­lisch spricht, ist eher nicht zu rech­nen. Und Moham­mad ist nicht nur als Dol­met­scher ide­al, son­dern hat auch noch Ahnung von euro­päi­schen Modetrends!

Wir schlen­dern also zu der Schus­ter­werk­statt, und mit sei­ner Unter­stüt­zung bestel­le ich ein paar Stie­fel, die spä­tes­tens am 5. Sep­tem­ber fer­tig sein sollen.

Mei­ne Füße wer­den gründ­lich ver­mes­sen, und ich schaue noch zu, wie das gelb­li­che Leder für die Stie­fel­schäf­te zuge­schnit­ten wird.

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Als Moham­mad zu sei­nem Laden zurück will, ver­ab­schie­de ich mich von ihm, bedan­ke mich für den unter­halt­sa­men und lehr­rei­chen Vor­mit­tag und ver­spre­che, dass ich ihn am nächs­ten Tag wie­der besu­chen kom­me.

Den Nach­mit­tag ver­brin­ge ich im Hotel; erst wasche ich alle schmut­zi­gen Klei­dungs­stü­cke und dann set­ze ich mich in den Gar­ten, erle­di­ge ein paar Näh­ar­bei­ten und schrei­be und zeich­ne in mei­nem Reisetagebuch.

3. Sep­tem­ber

Heu­te erkun­den Inge und ich die Stadt­tei­le hin­ter der Jumah-Moschee, aber ent­we­der sind wir in die fal­schen Gas­sen ein­ge­bo­gen, oder es han­delt sich um rei­ne Wohn­vier­tel – es gibt hier kei­ne Läden, nicht ein­mal Werk­stät­ten, nur von abwei­sen­den Mau­ern und ver­schlos­se­ne Türen gesäum­te und men­schen­lee­re Straßen.

Die Luft flim­mert in der Mit­tags­hit­ze, und uns kle­ben bald die Zun­gen am Gaumen.

Puh… ich wünsch­te, wir wären in Istan­bul, wo es an jeder Ecke einen Lebens­mit­tel-Laden oder wenigs­tens eine Tee­stu­be gibt!” stöhnt Inge.

Ich weiß, wo wir einen Tee krie­gen kön­nen – im Laden von die­sem Mohammad.”

Echt? Mit­ten im Rama­dan? Dann aber los, nichts wie hin!”

Eine Vier­tel­stun­de spä­ter sit­zen wir hin­ter dem Ver­kaufs­tre­sen und schlür­fen Tee.

Es ist wenig los heu­te in der Innen­stadt, und Moham­mad ist hoch­er­freut über die Abwechs­lung, die unser Besuch bedeutet.

Inge fragt ihn nach den Ein­drü­cken, die er wäh­rend sei­ner Deutsch­land-Rei­se gesam­melt hat, und er gerät ins Schwärmen:

Oh, it was so nice in Munich; ever­y­thing was so very clean, the streets, the places, the houses…”

Nicht nur die deut­sche Sau­ber­keit und Ord­nung hat ihn sehr beein­druckt, son­dern auch die Tat­sa­che, dass man – wenn man ein Anlie­gen oder Pro­blem hat – in Deutsch­land offen­bar nicht erst alle damit befass­ten Poli­zis­ten und Ver­wal­tungs­be­am­te (oder auch Medi­zi­ner) mit einem statt­li­chen Bak­schisch schmie­ren muss.

Und dann erst die Autos!

Moham­mads Augen strah­len, als er andäch­tig die Mar­ken­na­men auf­sagt, und im Brust­ton der Über­zeu­gung ver­si­chert er uns, deut­sche Auto­mo­bi­le wären die bes­ten der Welt. Über­haupt sind Maschi­nen aus Deutsch­land sei­ner Ansicht nach kon­kur­renz­los – nur lei­der in Afgha­ni­stan kaum zu bekommen.

We have only cars and machi­nes from Rus­sia,” sagt er und zieht eine Grimasse.

Rus­si­an machi­nes are no good. They break all the time.”

Ich muss an Ali den­ken, den begeis­ter­ten Fan sowje­ti­scher Ideo­lo­gie und Han­dels­gü­ter… War­um ist denn aus­ge­rech­net Tech­nik aus der Sowjet­uni­on in Afgha­ni­stan so verbreitet?

Have you seen the pic­tu­re of our pre­si­dent?” erkun­digt sich Moham­mad, und als ich nicke, sagt er ver­ächt­lich: „He is a pup­pet on a string.”.

Was ist mit dem Präsidenten?”

Inge hat in ihrer Tasche gekramt und nicht aufgepasst.

Er sagt, der afgha­ni­sche Prä­si­dent sei eine Mario­net­te der Sowjets. Du weißt schon – die­ser Kahl­kopf, des­sen Bild auch in der Hotel­re­zep­ti­on hängt.”

Ah ja, genau, der Kojak,” meint Inge, denn so nennt Rolf den afgha­ni­schen Regie­rungs­chef immer.

No, his name is Daoud Khan,” wider­spricht Moham­mad – und wun­dert sich über unser Gegacker.

Aber als ich ihm von Tel­ly Sava­las, dem glatz­köp­fi­gen, stän­dig Lol­lis lut­schen­den Haupt­dar­stel­ler der US-Kri­mi­se­rie „Ein­satz in Man­hat­tan” erzäh­le, lacht er auch. Beson­ders lus­tig fin­det er die Vor­stel­lung, sein Prä­si­dent wür­de mit einem Dau­er­lut­scher im Mund von den zahl­lo­sen Fotos her­ab lächeln.

Dann kommt er wie­der auf Deutsch­land zu sprechen.

The Peo­p­le in Afgha­ni­stan like the Ger­mans much more than the Rus­si­ans,” ver­traut er uns an – die Deut­schen sei­en in sei­nem Land viel belieb­ter als die Sowjets – und dann sagt er etwas, das das Lächeln auf unse­ren Gesich­tern schlag­ar­tig erlö­schen lässt:

We also like the Ger­mans much more becau­se of Hitler.”

Nach einem Moment des fas­sungs­lo­sen Schwei­gens sagt Inge (immer­hin auf eng­lisch): „Oh, shit…”.

I know, he star­tet the Second World­war,” beeilt sich sich Moham­mad hin­zu­zu­fü­gen, als er unse­re betre­te­nen Gesich­ter sieht. Er wis­se, dass Hit­ler den zwei­ten Welt­krieg ange­fan­gen hät­te, und das sei natür­lich nicht gut gewe­sen, aber…

Aber?

Sei­ne Stim­me wird lei­ser und bekommt einen ver­schwö­re­ri­schen Unterton:

We like Hit­ler, becau­se he hatet the jews. We hate them, too.”

Die Afgha­nen has­sen Juden und mögen Hit­ler, weil er die Juden eben­falls hass­te – was für ein grau­en­vol­ler Irrsinn.

Und das nennt er auch noch als Grund dafür, dass Deut­sche hier­zu­lan­de so beliebt sind!

Inge und ich sehen uns fas­sungs­los an; sie ver­dreht die Augen und zieht ihre Schul­tern hoch. Auch ich kann nicht ver­ste­hen, wie der net­te, hilfs­be­rei­te Moham­mad, den ich bis eben noch für einen rela­tiv gebil­de­ten und welt­ge­wand­ten jun­gen Mann gehal­ten habe, etwas der­ar­tig gefähr­lich Dum­mes von sich geben kann.

Ange­strengt grüb­le ich dar­über nach, wie ich ihm klar machen kann, wie idio­tisch sei­ne Hal­tung ist.

In Inge scheint sich Ähn­li­ches abzu­spie­len; sie fragt Moham­mad, war­um er denn eigent­lich Juden has­se, und dann auch noch alle Juden? Ob er selbst über­haupt schon ein­mal wel­che ken­nen gelernt habe?

Unser Gast­ge­ber schei­nen die­se Fra­gen zu irritieren.

Er ant­wor­tet aus­wei­chend, und es wird zwar klar, dass sei­ne Aver­si­on gegen Juden in kei­nem Zusam­men­hang mit per­sön­li­chen Erfah­run­gen steht – aber auch, dass es sich offen­bar um Vor­ur­tei­le han­delt, mit denen er groß gewor­den ist und die für ihn den Sta­tus unanzwei­fel­ba­rer Wahr­hei­ten haben.

Des­halb ver­su­che ich es mit einer ande­ren Argumentationsweise.

Da er kein Deut­scher sei, kön­ne er natür­lich nicht so viel über Hit­ler und sei­ne „phi­lo­so­phy” wis­sen wie ich, erzäh­le ich Moham­mad. Und dass es mir ja leid täte, sei­ne Illu­sio­nen zer­stö­ren zu müs­sen – aber Hit­ler hät­te die Juden gar nicht gehasst, weil sie Juden sei­en, son­dern vor allem des­halb, weil die meis­ten von ihnen nicht blond gewe­sen wären…

Das ist jetzt aber eine Kurz­fas­sung der Nazi-Ras­sen­leh­re, mit der du am his­to­ri­schen Semi­nar durch jeden Test ras­seln wür­dest!” wen­det Inge ein. Aber sie zwin­kert mir zu dabei; sie hat schon ver­stan­den, wel­che Stra­te­gie ich verfolge.

Moham­mad run­zelt die Brau­en, als ich ihm den Pro­to­typ der ari­schen „Her­ren­ras­se” beschrei­be, mit dem die Nazis die Welt zu bevöl­kern gedach­ten: groß, blond und blauäugig.

But Hit­ler did not look like this,” sagt er zwei­felnd, Hit­ler selbst hat doch gar nicht so ausgesehen.

That was one of his grea­test pro­blems,” behaup­te ich kühn.

Hit­lers Kom­ple­xe wegen sei­ner schmäch­ti­gen Sta­tur und sei­nes „un-arisch Typs”, füh­re ich aus, hät­ten sei­nen Hass auf Men­schen mit dunk­ler Haut und schwar­zen Haa­ren nur noch gesteigert.

Sodann kom­me ich zum dra­ma­ti­schen Höhe­punkt mei­nes klei­nen Exkurses:

With your brown eyes and your black hair, Moham­mad – can you ima­gi­ne, what Hit­ler would have done to you?”

Weißt du, was Hit­ler mit dir gemacht hätte?

The nazis would have locked you up in a con­zen­tra­ti­on camp. And you would have been kil­led, just like the jews were kil­led – becau­se of the colour of your eyes, of your skin and your hair.”

Ja, mein Lie­ber, Hit­lers Nazis hät­ten auch dich ins KZ gesperrt und umge­bracht, wegen dei­ner schö­nen brau­nen Augen, dei­ner bron­ze­far­be­nen Haut und dei­ner raben­schwar­zen Haare…

Moham­mad starrt mich ent­setzt und ungläu­big an.

But that’s stu­pid!” ruft er empört.

Jetzt müs­sen Inge und ich doch wie­der lachen.

Oh yes,” stim­men wir zu, das ist wirk­lich dumm.

So dumm, wie es nun mal immer ist, wenn Men­schen ande­re Men­schen wegen ihres Aus­se­hens, ihrer Her­kunft, ihrer Kul­tur oder ihrer Reli­gi­on glau­ben has­sen zu müssen!

Dass wir Moham­mad auch von der Dumm­heit der Vor­ur­tei­le über­zeugt haben, mit denen er selbst groß gewor­den ist, wagen wir nicht zu hoffen.

Doch sei­ner Begeis­te­rung für Adolf Hit­ler konn­ten wir offen­sicht­lich einen kräf­ti­gen Dämp­fer ver­pas­sen; er wirkt jetzt doch recht nachdenklich.

Ich male mir aus, wie er – der als weit­ge­reis­ter Mann ver­mut­lich als Ken­ner der west­li­chen Welt gilt – nun als Mul­ti­pli­ka­tor fun­gie­ren und sei­nen Freun­den erzäh­len könn­te, dass ihr Idol Hit­ler auch ihnen aus ras­sis­ti­schen Grün­den kei­nes­wegs wohl­ge­son­nen gewe­sen wäre.

4. Sep­tem­ber

Es ist unser vor­letz­ter Tag in Herat, und Moham­mad geht mit mir zusam­men zur Schus­ter-Werk­statt hin­über, um sich nach dem Stand der Arbei­ten an mei­nen Stie­feln zu erkundigen.

Ja, über­setzt er die Erläu­te­run­gen des Schus­ters, mor­gen Mit­tag wer­den sie fer­tig sein.

Den Schuh­ma­cher – einen hoch­ge­wach­se­nen Tadschi­ken, der heu­te eine Kara­kul-Müt­ze trägt, neben dem Tur­ban die häu­figs­te Kopf­be­de­ckung der hie­si­gen Män­ner­welt – habe ich vor­ges­tern (mit sei­ner Erlaub­nis) an sei­nem Arbeits­platz foto­gra­fiert; da es dort aber nicht beson­ders hell ist, weiß ich nicht, ob die Auf­nah­me etwas gewor­den ist.

Ich bit­te Moham­mad daher, ihn zu fra­gen, ob ich noch ein Foto von ihm und sei­nem Gehil­fen drau­ßen vor der Werk­statt machen darf.

Die bei­den sind sofort ein­ver­stan­den und stel­len sich wür­de­voll in Positur.

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Anschlie­ßend foto­gra­fiert dann der Schuh­ma­cher Moham­mad und mich vor des­sen Laden.

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Als ich danach wie­der zum Hotel zurück will, ist Moham­mad ent­täuscht, weil ich nicht blei­ben und wie üblich hin­ter sei­nem Tre­sen Tee trin­ken möch­te, und fragt mich, ob ich viel­leicht wegen unse­rer „poli­ti­schen Dis­kus­si­on” vom Vor­ta­ge noch ver­är­gert wäre.

Nein, beteue­re ich, damit habe mei­ne Eile nichts zu tun.

Es ist mir ein wenig unan­ge­nehm – schließ­lich rede ich mit einem Mann, der von Son­nen­auf­gang bis Son­nen­un­ter­gang weder essen noch trin­ken darf – aber damit er nichts Fal­sches denkt, ver­ra­te ich ihm dann doch den Grund: ich hat­te heu­te noch kein Früh­stück, und mir ist ganz flau vor Hunger.

Das bringt Moham­mad auf eine Idee.

Ich hät­te ja wegen des Rama­dan wahr­schein­lich noch gar kei­ne Gele­gen­heit gehabt, die lecke­re afgha­ni­sche Küche ken­nen zu lernen!

Das kön­ne er nicht zulas­sen, ich müs­se ihm unbe­dingt die Ehre erwei­sen, heu­te Abend mit ihm zu essen!

Die Aus­sicht auf eine rich­ti­ge Mahl­zeit ist zwar außer­or­dent­lich ver­lo­ckend, denn seit unse­re klei­ne Rei­se­ge­sell­schaft die Tür­kei ver­las­sen hat, stan­den nur noch Zwie­beln, Reis und ran­zi­ge But­ter (im Iran) und auf dem ein­flam­mi­gen Cam­ping-Kocher Zube­rei­te­tes wie Sup­pen und Ein­töp­fe auf dem Speiseplan.

Ande­rer­seits, wer weiß, wo – und mit wie vie­len mög­li­cher­wei­se unan­ge­nehm über­rasch­ten Ange­hö­ri­gen zusam­men – Moham­mad wohl wohnt?

Ich gebe zu beden­ken, dass ich mich in Herat nicht aus­ken­ne und gera­de mal den Weg zwi­schen Hotel und Stadt­zen­trum weiß. Und selbst bei die­ser – nicht all­zu lan­gen – Stre­cke bin nicht sicher, ob ich sie nach Ein­bruch der Dun­kel­heit lau­fen möchte…

Nein, nein, ich müs­se nicht in ein ent­le­ge­nes Stadt­vier­tel kom­men, beru­higt er mich.

Er wür­de immer im Laden essen; sei­ne Schwes­tern brin­gen sein Essen gegen sie­ben Uhr, und es sei jedes Mal so viel, dass es für min­des­tens vier Leu­te rei­chen würde.

Als ich immer noch skep­tisch gucke, fügt er eilig hin­zu, dass mei­ne Freun­din „Hin­ge” selbst­ver­ständ­lich auch ein­ge­la­den ist. Und zu zweit hät­ten wir doch bestimmt kei­ne Angst, am Abend das klei­ne Stück die Stra­ße hin­un­ter zu kom­men, oder?

Da kann ich nicht mehr widerstehen.

Die Aus­sicht auf ein ori­en­ta­li­sches Fest­mahl – ich habe gehört, dass sich die Fas­ten­den wäh­rend des Rama­dan am Abend mit beson­ders köst­li­chen Spei­sen für die Ent­beh­run­gen des Tages ent­schä­di­gen – ist ein­fach zu verlockend.

Ich bedan­ke mich daher für die Ein­la­dung und ver­spre­che, um sie­ben Uhr zu erscheinen.