2. September
Am nächsten Vormittag ziehe ich allein los, den Inge hat festgestellt, dass sie dringend Wäsche waschen muss. Das wäre zwar auch bei mir mal wieder fällig, aber zuerst will ich die Preise für Stiefel in Erfahrung bringen und eventuell ein Paar in Auftrag geben.
Als ich an der Seitenstraße vorbeikomme, in der sich der Laden mit dem türkisgrünen Trinkglas befindet, biege ich ein und bleibe von dem kleinen Schaufenster stehen.
Ich spähe durch die trübe Scheibe, um zu sehen, ob in der Auslage vielleicht noch andere, ähnliche Gläser stehen. Doch ich kann keine entdecken – nur den auf seinem Kissen thronendenden Ladeninhaber, der mir zuwinkt, ich möge doch hereinkommen.
Ich schüttele lächelnd den Kopf und mache eine vage Handbewegung in Richtung Hauptstrasse, um anzudeuten, dass ich gleich weiter will.
Er soll bloß nicht glauben, ich sei wegen seines Glases gekommen – das würde den Preis bestimmt in noch unerschwinglichere Höhe treiben.
Als ich mich gerade von dem mit hochinteressanten Dingen gefüllten Schaufenster losreißen will, spüre ich, wie sich eine Hand auf meinen Hintern legt.
Ich fahre herum wie von der Tarantel gestochen und lasse meine übliche, lautstarke deutsch-englische Schimpftirade vom Stapel.
Der junge Afghane, der sich angeschlichen hat, um mich zu begrabschen, weicht zwei Schritte zurück, sieht mich aber mehr trotzig als eingeschüchtert an.
Mir fällt der schubsende Perser ein, der mich an der türkisch-iranischen Grenze schlagen wollte, und ich habe plötzlich einen Kloß im Hals – was, wenn es auch hierzulande als das Recht eines Mannes angesehen wird, unverschleierte (und „nur” mit T‑Shirt und langer Hose bekleidete) Frauen derart respektlos zu behandeln?
Ich lasse meinen Blick umherschweifen, und was ich sehe, ist nicht gerade ermutigend. Die ‘Shar-I-nau’ ist zwar in Sicht- und Rufweite, aber unter den wenigen Passanten kann ich keine westlichen Touristen ausmachen; offenbar sind zu dieser frühen Stunde ausschließlich afghanische Männer unterwegs.
Bevor aber aus meinem beklommenen Gefühl richtige Angst wird, erhalte ich unerwartete Unterstützung – hinter mir ertönt laut und empört die Stimme des alten Ladenbesitzers.
Er hat steht in der geöffneten Tür und hält dem jungen Mann einen entzürnten Vortrag auf Dari, den ich anhand seiner ausdrucksstarken Gestik und Mimik so deute:
Ich sehe vielleicht nicht so aus, wie eine anständige afghanische Frau auszusehen hat, aber ich bin ja auch keine afghanische Frau, sondern zu Gast in ihrem Land – in dem Gastfreundschaft, das hat man mir erklärt, eine Sache der Ehre und hoch geachtete Tugend ist!
Als der Ladenbesitzer auf mich deutet und dem Übeltäter mit schneidender Stimme eine (offenbar rhetorische) Frage stellt – vielleicht, ob er wirklich erreichen wolle, dass ich nach meiner Rückkehr in mein Heimatland dort afghanische Männer als ehrlose Grabscher schildere? – scheint dieser um mehrere Zentimeter zu schrumpfen.
Er zieht die Schultern hoch, blickt zu Boden und murmelt fast unhörbare Entschuldigungen. Den alten Herrn spricht er mit „Hadji” an, was diesen als Mekka-Pilgerer und besonders angesehene Respektsperson ausweist.
Nachdem der eingeschüchterte Jüngling von dannen gezogen ist, bedanke ich mich ehrerbietig bei meinem Retter.
Mit geneigtem Kopf gibt er mir durch Gesten lächelnd zu verstehen, sein Eingreifen sei eine Selbstverständlichkeit gewesen.
Zurück auf der Hauptstrasse, steuere ich sofort den Laden an, dessen Inhaber Inge und mir gestern von seiner dänischen Freundin erzählt hat.
Jetzt habe ich das Bedürfnis, mit jemandem zu kommunizieren, der eine mir geläufige Sprache spricht.
Mohammad strahlt über das ganze Gesicht, als er mich sieht.
„Pola – what a nice surprise! Please come in! Would you like to have a tea?”
Tee wäre absolut phantastisch, erkläre ich, aber ist das denn nicht etwas problematisch – immerhin ist doch Ramadan?
Mohammad macht eine wegwerfende Geste.
Ich sei doch keine Muslima, warum also sollte ich keinen Tee trinken?
Außerdem, fügt er mit spitzbübischen Grinsen hinzu, gibt es in seinem Laden ja diesen etwa vier Meter langen, hohen Verkaufstresen. Es wäre ganz reizend, wenn ich einfach dahinter Platz nehmen würde… Dort könne mich nämlich niemand sehen.
Er schickt einen Jungen los, der nach wenigen Minuten mit einem Tablett zurückkehrt, auf dem sich eine kleine Kanne, ein Glas und einige in Papier eingepackte Zuckerwürfel befinden. Und ich lasse mich hinter dem Tresen nieder, wo mehrere Sitzkissen liegen – offenbar wird diese für Passanten und Kunden nicht einsehbare Rückzugsmöglichkeit des öfteren genutzt – und genieße den heißen, würzigen Trank.
Mohammad lehnt sich lässig an das Ende des Tresens, wo er sich mit mir unterhalten und gleichzeitig den Laden im Blick behalten kann.
Als ich von meinem Erlebnis berichte, schüttelt er bekümmert den Kopf.
Alles, was solche jungen Kerle über „western women” zu wissen glauben, stamme aus Illustrierten wie dem „Playboy”, die voll wären mit Bildern einladend wirkender nackter Frauen, erklärt er mir.
Solche Hochglanz-Magazine würden hinter den Rücken der Älteren eifrig getauscht und verschlungen, und diese Lektüre führe im Fall schlicht gestrickter Gemüter dann zu der Ansicht, unverschleierte Frauen aus westlichen Ländern seien ganz wild darauf, sich von jedem Mann beglotzen und begrabschen zu lassen…
Dass der ehrwürdige Hadji sich über das ungebührliche Verhalten des jungen Mannes so aufgeregt hat, kann Mohammad sehr gut nachvollziehen; es sei ihm wahrscheinlich unendlich peinlich gewesen, dass ich Opfer einer derartigen Grabsch-Attacke wurde – und dann auch noch ausgerechnet vor seinem Laden!
Ja, beinahe wäre ich auch seine Kundin geworden, füge ich hinzu und erzähle von unserem ersten Besuch dieses Geschäftes und von dem grünen Glas.
Mohammad schmunzelt.
Er zeigt auf die angelaufenen Messing-Tabletts und Schalen, die neben der Eingangstür stehen, und sagt: „Look, there is not one article, which looks like another…”
Dann lüftet er den Vorhang vor einem Regal unterm Tresen: „… because the others are there.”
Tatsächlich stapeln sich dort diverse Tabletts und flache Schalen derselben Machart, mit den gleichen Mustern und den gleichen Spuren des Alters.
„They look, as if they are very old, don’t they? But they were made just a few weeks before!”
Er erläutert mir, wie die Metallobjekte mit heißer Asche, Teer und manchmal auch Dung behandelt werden, um jene „antike” Patina zu erzielen, auf die die ausländische Kundschaft ganz wild sei.
Wenig später betreten drei Touristinnen mittleren Alters den Laden, bekleidet mit bunten Batik-Tuniken und behängt mit Halsketten aus schwerem, mit Halbedelsteinen besetzten Silber, wie ich sie im „Großen Basar” von Istanbul gesehen habe.
Die Frauen, die anhand ihrer gedehnten Aussprache unschwer als Amerikanerinnen zu erkennen sind, plaudern nicht nur über Mohammads Warenangebot, sondern unterhalten sich auch ungeniert darüber, was für ein „pretty young man” er sei. Offenbar halten sie es für ausgeschlossen, dass dieser ‘hübsche junge Mann’ über genügend Englischkenntnisse verfügt, um ihr Gespräch verstehen zu können.
Und in der Tat scheint Mohammad plötzlich nicht mehr imstande zu sein, einen kompletten Satz in Englisch zu formulieren. Er hat auf einmal einen schauderhaften Akzent, beschränkt sich darauf, Reizworte wie „old” und „very very old” hervorzustoßen, und beantwortet Fragen nach Preisen mit Angaben wie „peif – zero — zero, very very cheap” – obgleich er im Export-Business wohl kaum eine Chance hätte, wenn ihm nicht einmal das englische Wort für die Zahl 500 geläufig wäre.
In meinem Versteck hinter dem Tresen versuche ich, ganz flach und ruhig zu atmen.
Ich presse die Lippen fest zusammen, um nicht loszuprusten, und spitze die Ohren, um ja nichts von dem idiotisch klingenden Gebrabbel zu verpassen, mit dem Mohammad eine schwarz angelaufene, mit unechten Türkisen besetzte Messingschale („very good, very old”) anpreist.
Die Damen haben bereits festgestellt, dass es von diesem Schälchen nur ein einziges Exemplar gibt, und unterhalten sich halblaut darüber, dass dieser hübsche junge Verkäufer vermutlich gar nicht weiß, was er da für eine Kostbarkeit in Händen hält.
„I give you 250 Afghanis, two – five – zero,” sagt die eine schließlich in energischem Ton. Von Mohammad höre ich ein Ächzen; ich sehe förmlich vor mir, wie er mit den Augen rollt und sein Gesicht zu einer jammervollen Grimasse verzieht.
Wahrscheinlich kriegt die Sprecherin ein ganz schlechtes Gewissen angesichts seines Leidens, denn als er schließlich „four – peif – zero” röchelt, stimmt sie sofort zu.
Ihre Begleiterinnen haben sich derweil Blusen aus plissiertem Burka-Stoff und bunte Tücher ausgesucht und bezahlen widerspruchslos die verlangten Preise, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, niedrigere auszuhandeln.
Die Käuferin der „antiken” Messingschale kann es sich dann auch nicht verkneifen, ihnen das vorzuhalten:
„You should bargain,” belehrt sie ihre Freundinnen beim Hinausgehen.
„Look, I’ve got this beautiful thing for fifty Afghanis less!”
Als sie weg sind, muss ich mich nicht mehr zusammenreißen und kichere los.
„That was funny,” sage ich zu Mohammad, der wieder am Tresen lehnt.
Er scheint anderer Meinung zu sein.
„It was boring,” meint er und zieht eine Grimasse.
Solche Kunden brächten zwar Geld in die Kasse, aber ihnen etwas teuer zu verkaufen, sei langweilig – weil es zu leicht sei.
Ich verstehe: wenn man Feilschen als eine Art Sport ansieht, dann war das eben ein Wettkampf unter höchst unfairen Bedingungen, in dem ein alter Hase mit Meistertitel gegen ein paar blutige Anfänger antreten musste…
Er nimmt ein neues, alt aussehendes Schälchen mit grünen Glas-Türkisen aus dem Regal, und ich frage ihn, was das Ding denn nun wirklich wert sei.
„Fivehundred Afghanis – it is very old, mylady, many hundred years old…” leiert er herunter, und der Schalk blitzt in seinen Augen.
Dann erteilt er mir eine Lektion im Feilschen, an deren Ende sich herausstellt, dass die amerikanische Touristin – hätte sie die Kunst des Handelns wirklich beherrscht – ihr Souvenir auch für weniger als hundert Afghanis (zwei Dollar) bekommen hätte. Und für ihn wäre da immer noch eine gute Handelsspanne drin gewesen…
Die nächsten Kunden, bei denen ich Mäuschen spiele, sind ein französisches Paar, und die zwei haben’s drauf. Obwohl sie – wie die meisten Franzosen, die man auf der Strecke nach Indien trifft – kaum Englisch sprechen (und das wenige mit starkem Akzent), feilschen sie so temperamentvoll und wortreich um den Preis eines Silberringes, als hätten sie schon ihr Leben lang all ihre Einkäufe auf diese Art erledigt.
Es ist nicht zu überhören, dass Mohammad an solchen Verkaufsverhandlungen weit mehr Spaß hat. Als die Beiden schließlich mit einem hübschen Ring zum günstigen Preis zufrieden abziehen, verabschiedet er sie wie alte Freunde.
Gutgelaunt kommt er hinter den Tresen getänzelt und lässt sich auf eins der Sitzkissen fallen.
Der Ring sei wirklich ein besonders schön gearbeitetes Stück gewesen, erklärt er, und dass es ihn sehr freue, dass er ihn an zwei echte Kenner verkaufen konnte.
Da erst fällt mir wieder ein, weshalb ich eigentlich in die Stadt gekommen bin.
Ich frage ihn, ob es möglich sei, sich in nur drei Tagen ein Paar Stiefel anfertigen zu lassen, und wenn ja, was das dann wohl kosten würde.
Doch, ja, drei Tage müssten ausreichen, meint Mohammad, und den Preis schätzt er auf etwa vierhundert Afghanis. Wir könnten gleich mal fragen gehen, schlägt er vor, ein paar Häuser weiter gebe es eine Schusterwerkstatt. Er kenne die beiden Schuhmacher, sie würden gut und sorgfältig arbeiten.
Das lasse ich mir natürlich nicht zweimal sagen.
Ich hatte mich ohnehin schon gefragt, wie ich dem Schuster eigentlich meine Vorstellungen erläutern soll – denn damit, dass ein afghanischer Handwerker fließend englisch spricht, ist eher nicht zu rechnen. Und Mohammad ist nicht nur als Dolmetscher ideal, sondern hat auch noch Ahnung von europäischen Modetrends!
Wir schlendern also zu der Schusterwerkstatt, und mit seiner Unterstützung bestelle ich ein paar Stiefel, die spätestens am 5. September fertig sein sollen.
Meine Füße werden gründlich vermessen, und ich schaue noch zu, wie das gelbliche Leder für die Stiefelschäfte zugeschnitten wird.
Als Mohammad zu seinem Laden zurück will, verabschiede ich mich von ihm, bedanke mich für den unterhaltsamen und lehrreichen Vormittag und verspreche, dass ich ihn am nächsten Tag wieder besuchen komme.
Den Nachmittag verbringe ich im Hotel; erst wasche ich alle schmutzigen Kleidungsstücke und dann setze ich mich in den Garten, erledige ein paar Näharbeiten und schreibe und zeichne in meinem Reisetagebuch.
3. September
Heute erkunden Inge und ich die Stadtteile hinter der Jumah-Moschee, aber entweder sind wir in die falschen Gassen eingebogen, oder es handelt sich um reine Wohnviertel – es gibt hier keine Läden, nicht einmal Werkstätten, nur von abweisenden Mauern und verschlossene Türen gesäumte und menschenleere Straßen.
Die Luft flimmert in der Mittagshitze, und uns kleben bald die Zungen am Gaumen.
„Puh… ich wünschte, wir wären in Istanbul, wo es an jeder Ecke einen Lebensmittel-Laden oder wenigstens eine Teestube gibt!” stöhnt Inge.
„Ich weiß, wo wir einen Tee kriegen können – im Laden von diesem Mohammad.”
„Echt? Mitten im Ramadan? Dann aber los, nichts wie hin!”
Eine Viertelstunde später sitzen wir hinter dem Verkaufstresen und schlürfen Tee.
Es ist wenig los heute in der Innenstadt, und Mohammad ist hocherfreut über die Abwechslung, die unser Besuch bedeutet.
Inge fragt ihn nach den Eindrücken, die er während seiner Deutschland-Reise gesammelt hat, und er gerät ins Schwärmen:
„Oh, it was so nice in Munich; everything was so very clean, the streets, the places, the houses…”
Nicht nur die deutsche Sauberkeit und Ordnung hat ihn sehr beeindruckt, sondern auch die Tatsache, dass man – wenn man ein Anliegen oder Problem hat – in Deutschland offenbar nicht erst alle damit befassten Polizisten und Verwaltungsbeamte (oder auch Mediziner) mit einem stattlichen Bakschisch schmieren muss.
Und dann erst die Autos!
Mohammads Augen strahlen, als er andächtig die Markennamen aufsagt, und im Brustton der Überzeugung versichert er uns, deutsche Automobile wären die besten der Welt. Überhaupt sind Maschinen aus Deutschland seiner Ansicht nach konkurrenzlos – nur leider in Afghanistan kaum zu bekommen.
„We have only cars and machines from Russia,” sagt er und zieht eine Grimasse.
„Russian machines are no good. They break all the time.”
Ich muss an Ali denken, den begeisterten Fan sowjetischer Ideologie und Handelsgüter… Warum ist denn ausgerechnet Technik aus der Sowjetunion in Afghanistan so verbreitet?
„Have you seen the picture of our president?” erkundigt sich Mohammad, und als ich nicke, sagt er verächtlich: „He is a puppet on a string.”.
„Was ist mit dem Präsidenten?”
Inge hat in ihrer Tasche gekramt und nicht aufgepasst.
„Er sagt, der afghanische Präsident sei eine Marionette der Sowjets. Du weißt schon – dieser Kahlkopf, dessen Bild auch in der Hotelrezeption hängt.”
„Ah ja, genau, der Kojak,” meint Inge, denn so nennt Rolf den afghanischen Regierungschef immer.
„No, his name is Daoud Khan,” widerspricht Mohammad – und wundert sich über unser Gegacker.
Aber als ich ihm von Telly Savalas, dem glatzköpfigen, ständig Lollis lutschenden Hauptdarsteller der US-Krimiserie „Einsatz in Manhattan” erzähle, lacht er auch. Besonders lustig findet er die Vorstellung, sein Präsident würde mit einem Dauerlutscher im Mund von den zahllosen Fotos herab lächeln.
Dann kommt er wieder auf Deutschland zu sprechen.
„The People in Afghanistan like the Germans much more than the Russians,” vertraut er uns an – die Deutschen seien in seinem Land viel beliebter als die Sowjets – und dann sagt er etwas, das das Lächeln auf unseren Gesichtern schlagartig erlöschen lässt:
„We also like the Germans much more because of Hitler.”
Nach einem Moment des fassungslosen Schweigens sagt Inge (immerhin auf englisch): „Oh, shit…”.
„I know, he startet the Second Worldwar,” beeilt sich sich Mohammad hinzuzufügen, als er unsere betretenen Gesichter sieht. Er wisse, dass Hitler den zweiten Weltkrieg angefangen hätte, und das sei natürlich nicht gut gewesen, aber…
Aber?
Seine Stimme wird leiser und bekommt einen verschwörerischen Unterton:
„We like Hitler, because he hatet the jews. We hate them, too.”
Die Afghanen hassen Juden und mögen Hitler, weil er die Juden ebenfalls hasste – was für ein grauenvoller Irrsinn.
Und das nennt er auch noch als Grund dafür, dass Deutsche hierzulande so beliebt sind!
Inge und ich sehen uns fassungslos an; sie verdreht die Augen und zieht ihre Schultern hoch. Auch ich kann nicht verstehen, wie der nette, hilfsbereite Mohammad, den ich bis eben noch für einen relativ gebildeten und weltgewandten jungen Mann gehalten habe, etwas derartig gefährlich Dummes von sich geben kann.
Angestrengt grüble ich darüber nach, wie ich ihm klar machen kann, wie idiotisch seine Haltung ist.
In Inge scheint sich Ähnliches abzuspielen; sie fragt Mohammad, warum er denn eigentlich Juden hasse, und dann auch noch alle Juden? Ob er selbst überhaupt schon einmal welche kennen gelernt habe?
Unser Gastgeber scheinen diese Fragen zu irritieren.
Er antwortet ausweichend, und es wird zwar klar, dass seine Aversion gegen Juden in keinem Zusammenhang mit persönlichen Erfahrungen steht – aber auch, dass es sich offenbar um Vorurteile handelt, mit denen er groß geworden ist und die für ihn den Status unanzweifelbarer Wahrheiten haben.
Deshalb versuche ich es mit einer anderen Argumentationsweise.
Da er kein Deutscher sei, könne er natürlich nicht so viel über Hitler und seine „philosophy” wissen wie ich, erzähle ich Mohammad. Und dass es mir ja leid täte, seine Illusionen zerstören zu müssen – aber Hitler hätte die Juden gar nicht gehasst, weil sie Juden seien, sondern vor allem deshalb, weil die meisten von ihnen nicht blond gewesen wären…
„Das ist jetzt aber eine Kurzfassung der Nazi-Rassenlehre, mit der du am historischen Seminar durch jeden Test rasseln würdest!” wendet Inge ein. Aber sie zwinkert mir zu dabei; sie hat schon verstanden, welche Strategie ich verfolge.
Mohammad runzelt die Brauen, als ich ihm den Prototyp der arischen „Herrenrasse” beschreibe, mit dem die Nazis die Welt zu bevölkern gedachten: groß, blond und blauäugig.
„But Hitler did not look like this,” sagt er zweifelnd, Hitler selbst hat doch gar nicht so ausgesehen.
„That was one of his greatest problems,” behaupte ich kühn.
Hitlers Komplexe wegen seiner schmächtigen Statur und seines „un-arisch Typs”, führe ich aus, hätten seinen Hass auf Menschen mit dunkler Haut und schwarzen Haaren nur noch gesteigert.
Sodann komme ich zum dramatischen Höhepunkt meines kleinen Exkurses:
„With your brown eyes and your black hair, Mohammad – can you imagine, what Hitler would have done to you?”
Weißt du, was Hitler mit dir gemacht hätte?
„The nazis would have locked you up in a conzentration camp. And you would have been killed, just like the jews were killed – because of the colour of your eyes, of your skin and your hair.”
Ja, mein Lieber, Hitlers Nazis hätten auch dich ins KZ gesperrt und umgebracht, wegen deiner schönen braunen Augen, deiner bronzefarbenen Haut und deiner rabenschwarzen Haare…
Mohammad starrt mich entsetzt und ungläubig an.
„But that’s stupid!” ruft er empört.
Jetzt müssen Inge und ich doch wieder lachen.
„Oh yes,” stimmen wir zu, das ist wirklich dumm.
So dumm, wie es nun mal immer ist, wenn Menschen andere Menschen wegen ihres Aussehens, ihrer Herkunft, ihrer Kultur oder ihrer Religion glauben hassen zu müssen!
Dass wir Mohammad auch von der Dummheit der Vorurteile überzeugt haben, mit denen er selbst groß geworden ist, wagen wir nicht zu hoffen.
Doch seiner Begeisterung für Adolf Hitler konnten wir offensichtlich einen kräftigen Dämpfer verpassen; er wirkt jetzt doch recht nachdenklich.
Ich male mir aus, wie er – der als weitgereister Mann vermutlich als Kenner der westlichen Welt gilt – nun als Multiplikator fungieren und seinen Freunden erzählen könnte, dass ihr Idol Hitler auch ihnen aus rassistischen Gründen keineswegs wohlgesonnen gewesen wäre.
4. September
Es ist unser vorletzter Tag in Herat, und Mohammad geht mit mir zusammen zur Schuster-Werkstatt hinüber, um sich nach dem Stand der Arbeiten an meinen Stiefeln zu erkundigen.
Ja, übersetzt er die Erläuterungen des Schusters, morgen Mittag werden sie fertig sein.
Den Schuhmacher – einen hochgewachsenen Tadschiken, der heute eine Karakul-Mütze trägt, neben dem Turban die häufigste Kopfbedeckung der hiesigen Männerwelt – habe ich vorgestern (mit seiner Erlaubnis) an seinem Arbeitsplatz fotografiert; da es dort aber nicht besonders hell ist, weiß ich nicht, ob die Aufnahme etwas geworden ist.
Ich bitte Mohammad daher, ihn zu fragen, ob ich noch ein Foto von ihm und seinem Gehilfen draußen vor der Werkstatt machen darf.
Die beiden sind sofort einverstanden und stellen sich würdevoll in Positur.
Anschließend fotografiert dann der Schuhmacher Mohammad und mich vor dessen Laden.
Als ich danach wieder zum Hotel zurück will, ist Mohammad enttäuscht, weil ich nicht bleiben und wie üblich hinter seinem Tresen Tee trinken möchte, und fragt mich, ob ich vielleicht wegen unserer „politischen Diskussion” vom Vortage noch verärgert wäre.
Nein, beteuere ich, damit habe meine Eile nichts zu tun.
Es ist mir ein wenig unangenehm – schließlich rede ich mit einem Mann, der von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang weder essen noch trinken darf – aber damit er nichts Falsches denkt, verrate ich ihm dann doch den Grund: ich hatte heute noch kein Frühstück, und mir ist ganz flau vor Hunger.
Das bringt Mohammad auf eine Idee.
Ich hätte ja wegen des Ramadan wahrscheinlich noch gar keine Gelegenheit gehabt, die leckere afghanische Küche kennen zu lernen!
Das könne er nicht zulassen, ich müsse ihm unbedingt die Ehre erweisen, heute Abend mit ihm zu essen!
Die Aussicht auf eine richtige Mahlzeit ist zwar außerordentlich verlockend, denn seit unsere kleine Reisegesellschaft die Türkei verlassen hat, standen nur noch Zwiebeln, Reis und ranzige Butter (im Iran) und auf dem einflammigen Camping-Kocher Zubereitetes wie Suppen und Eintöpfe auf dem Speiseplan.
Andererseits, wer weiß, wo – und mit wie vielen möglicherweise unangenehm überraschten Angehörigen zusammen – Mohammad wohl wohnt?
Ich gebe zu bedenken, dass ich mich in Herat nicht auskenne und gerade mal den Weg zwischen Hotel und Stadtzentrum weiß. Und selbst bei dieser – nicht allzu langen – Strecke bin nicht sicher, ob ich sie nach Einbruch der Dunkelheit laufen möchte…
Nein, nein, ich müsse nicht in ein entlegenes Stadtviertel kommen, beruhigt er mich.
Er würde immer im Laden essen; seine Schwestern bringen sein Essen gegen sieben Uhr, und es sei jedes Mal so viel, dass es für mindestens vier Leute reichen würde.
Als ich immer noch skeptisch gucke, fügt er eilig hinzu, dass meine Freundin „Hinge” selbstverständlich auch eingeladen ist. Und zu zweit hätten wir doch bestimmt keine Angst, am Abend das kleine Stück die Straße hinunter zu kommen, oder?
Da kann ich nicht mehr widerstehen.
Die Aussicht auf ein orientalisches Festmahl – ich habe gehört, dass sich die Fastenden während des Ramadan am Abend mit besonders köstlichen Speisen für die Entbehrungen des Tages entschädigen – ist einfach zu verlockend.
Ich bedanke mich daher für die Einladung und verspreche, um sieben Uhr zu erscheinen.