11. September
„Je n’ai pas dormi bien,” erzählt Enrique mir am nächsten Morgen, er habe nicht gut geschlafen.
Na toll, denke ich, vermutlich aus dem gleichen Grund wie ich, und ich komme mir ein bisschen vor die Königstochter aus der alten Ballade – „sie konnten zueinander nicht kommen…”
Aber wenn man mit dieser übermütigen Rasselbande zusammen ist, ist es ein Ding der Unmöglichkeit, lange Trübsal zu blasen. Ohne sie erst zu fragen, haben Inge und ich Tee und Toast für alle bestellt, und unser gemeinsames Frühstück im Hof des Hotels zieht sich über eine Stunde hin.
Als die Spanier aufbrechen, um erneut ihr Glück im Dschungel der afghanischen Bürokratie zu versuchen, verlassen auch wir das Hotel, um uns in der Chicken Street nach ein paar Mitbringseln umzuschauen. Schließlich werden wir Kabul schon morgen früh in Richtung Pakistan verlassen.
Doch irgendwie will sich das übliche Vergnügen am Feilschen und Shoppen bei uns nicht einstellen.
Der Anblick von Silberschmuck, Samt- und Seidenstoffen, der sonst mein Herz zum Klopfen bringt, lässt mich heute völlig kalt. Es kommt mir geradezu unanständig vor, Geld für solchen Schnickschnack auszugeben, während unsere Freunde sich nicht einmal eine warme Mahlzeit am Tag leisten können und sich allabendlich für die unappetitliche Armenspeisung durchgeknallter Sektenjünger anstellen müssen.
„Weißt du was,” sage ich zu Inge, „ich habe in Herat und in Kabul viel weniger Geld ausgegeben als geplant. Ich mach’ nachher im Hotel mal Kassensturz und schau, wie viele Dollar ich erübrigen kann. Und die schenk ich dann morgen früh den Spaniern zum Abschied.”
„Das ist zweifellos eine lobenswerte Idee – aber, mal ehrlich, solltest du diese Reserve nicht lieber behalten? Ich meine, wir sind erst in Kabul; du könntest krank werden oder aus einem anderen Grund plötzlich mehr Geld benötigen als gedacht…?”
„Ich war gerade krank, und das hat nicht viel gekostet. Im Gegenteil, es hat mir all die Ausgaben für Einkaufstrips und Restaurantbesuche erspart!”
Inge grinst.
„Du weißt genau, was ich meine. Aber wenn du sicher bist, dass du das machen willst, dann tu es.”
„Ich bin mir sicher,” nicke ich.
Gesagt, getan.
Statt Souvenirs kaufen wir nur ein paar Brote und Tomaten (Zwiebeln haben wir noch mehr als genug) und gehen dann ins Hotel zurück.
Dort breite ich meine Traveller Schecks und das Bargeld – Dollars, D‑Mark und Afghanis – auf meinem Bett aus und versuche mir zum ersten Mal einen Überblick darüber zu verschaffen, wie viel ich seit meiner Abreise eigentlich ausgegeben habe. Und wie viel ich in den nächsten acht bis zwölf Wochen voraussichtlich noch brauchen werde, inklusive des Betrages für ein Flugtickets Delhi – Deutschland, das nach Rolfs Auskunft zwischen 300 und 350 Dollar kosten wird.
Inge hält eine Kassenbilanz für eine prima Idee und zählt ihre Geldvorräte ebenfalls.
Tatsächlich habe ich um die 200 Dollar (etwa 500 Mark) mehr im Geldbeutel als vermutet, und auch Inge ist noch „reicher”, als sie dachte. Sie fragt mich, wie viel ich den Spaniern geben werde.
„Weiß ich noch nicht. So dreißig, vierzig Dollar.”
„Is it possible to have dinner here in the hotel – like Quabeli, for example?” frage ich den Hotel-Manager, als ich am Nachmittag im Hof sitze, in mein Reisetagebuch schreibe und mir einen Tee bestelle. Inge hat sich hingelegt, um ein bisschen Schlaf nachzuholen.
Er strahlt. „Off course we can make Quabeli. You like it?”
„Yes, it is very delicious! I would like to order Quabeli for this evening – for seven persons.”
Der Hotelier versichert mir, es werde ihm ein Vergnügen sein, uns am Abend das gewünschte Essen servieren zu lassen.
Kurz darauf trudeln die Spanier ein, und heute ist es für Enrique und Carlos nicht so leicht, den Rest der Gruppe bei Laune zu halten.
In den Amtsstuben haben sie wieder nichts erreicht; hinzu kommt, dass die beiden Franzosen übermorgen Afghanistan mit dem Flugzeug verlassen werden, und nun befürchten sie, dass sie möglicherweise nicht länger im Hotel bleiben können, wenn nicht einmal mehr für deren Betten in im Schlafsaal etwas bezahlt wird.
Da kommt meine Einladung zu einem leckeren Abendessen gerade richtig.
Ihre wenigen, wohl nur der Form halber vorgebrachten Einwände entkräfte ich mit dem Hinweis, dass dies schließlich Inges und mein letzter Abend in Kabul wäre – und eine Absage einer tödlichen Beleidigung gleichkäme. Natürlich möchte keiner der Señores Inge (die inzwischen wieder aus heraus gekommen ist) oder mich beleidigen. Und als ich dann noch den großen Charas-Brocken, Zigaretten und Blättchen über den Tisch zu Carlos hinüber schiebe, damit er einen Joint baut, ist die Stimmung wieder erstklassig.
„Before we leave tomorrow, I will give you thirty Dollars,” sage ich zu Enrique und Carlos.
„Then you can pay bakshish at the office and get the papers you need.”
Carlos schüttelt den Kopf, aber ich erkläre ihm hastig, dass ich das Geld entbehren könne. Und dass ich es ihnen nicht schenken, sondern nur leihen wolle.
„I’ll give you my adress, and when you’re back in Spain, you can send it to me…”
„Okay,” er nickt und blickt unsicher zu Enrique hinüber, der ebenfalls nickt und ihn darauf hinweist, dass sie ganz bestimmt im „Koochie Hotel” bleiben dürfen, wenn sie auch nur einen einzigen Dollar pro Tag zahlen können.
Das würzige Reisgericht mit Lammfleisch am Abend ist sehr lecker, fast so gut wie das, was es bei Mohammad in Herat gab. Die sonst so redseligen Spanier werden ganz still, nur gelegentliches ist ein genießerisches Seufzen oder Schmatzen zu hören.
Als Dessert gibt es eine Art süßen Grießpudding, und danach reibt sich Guillermo stöhnend den runden Bauch und behauptet, nie wieder von der Bank aufstehen zu können.
Der Hotelbesitzer rät ihm zu Tee mit Kardamom, der würde die Verdauung anregen. Wir bestellen zwei Kannen davon.
Satt und zufrieden und ein wenig schläfrig sitze ich am Tisch und schaue zu, wie Carlos eine weitere Tüte bastelt, als Enrique sich zu mir neigt und mich fragt, ob ich Lust auf einen Spaziergang mit ihm hätte. Selbstverständlich habe ich Lust.
Ich schlage vor, zuerst zu „Sigis Restaurant” zu gehen, da ich wissen will, wie viel Zeit Inge und ich morgen früh bis dorthin brauchen werden. Aber als wir dort ankommen, habe ich schon vollkommen vergessen, auf die Zeit zu achten, so hingerissen bin ich von meinem Begleiter und dem, was er erzählt.
Mittlerweile funktioniert die Kommunikation zwischen uns nämlich prächtig; er redet spanisch, französisch, ab und zu englisch und mit Händen und Füßen, ich englisch, ab und zu französisch – und auch mit Händen und Füßen. Und wir verstehen uns wunderbar.
Ich erfahre, dass er in bereits ein Studium absolviert und als Grundschullehrer gearbeitet hat, weil seine Eltern und seine Frau gegen eine Laufbahn als Musiker waren.
Seine Frau? Ja, er war auch schon verheiratet; sie ließ sich scheiden, als er seine sichere Position aufgab, um seinen Träumen zu folgen, durch die Welt zu reisen und Gitarre zu spielen. Alles, was er nach der Trennung noch besaß, hatte er verkauft, um mit seinen Freunden nach Nepal fahren zu können – bis auf seine Gitarre.
Und die ist nun auch noch verbrannt, sage ich betrübt.
Ja, das sei traurig, aber er würde irgendwann wieder eine Gitarre haben, eine Fender, da ist er ganz sicher. Für den Moment sei alles gut so, wie es sei – es gäbe nun nichts mehr, was ihn an seine Vergangenheit binde, aber die ganze Welt läge vor ihm.
Ich nicke und füge hinzu: „And por de chätt is de best!”
Er lacht.
Wir lachen zusammen, wir schweigen zusammen, wir teilen unsere Träume.
Ich erzähle ihm, dass ich das Wort „Kathmandu” als Kind zum ersten Mal gehört und lange nicht gewusst hätte, dass es einen Ort dieses Namens tatsächlich gibt. Kathmandu war für mich wie Shangri-La, eine Märchenstadt im Reich der Phantasie. Als Schulkind erfuhr ich dann, dass Kathmandu eine real existierende Stadt ist – und von diesem Tag an wollte ich diese Stadt sehen.
Für ihn ist das nordindische Agra so ein magischer Ort. Ein Bild des Taj Mahal hat ihn fasziniert und bezaubert, und weil es eine Luftaufnahme war, hatte er sich immer wieder ausgemalt, er würde eines Tages mit einem Heißluftballon zu diesem aus Marmor und Edelsteinen geformten Andenken an die große Liebe des Shah Jahan reisen…
Wenn er Indien und Nepal bereist hat, will er nach Lateinamerika.
Der Kontinent hätte den Vorteil, dass dort – außer in Brasilien – überall Spanisch gesprochen würde, erklärt er grinsend. Und überrascht mich im nächsten Moment mit einer fast akzentfrei ausgesprochenen Bemerkung auf Englisch:
„Life is a long journey. Love, too.”
Ich kann nicht anders. Ich schnappe ihn mir und küsse ihn.
Im nächsten Moment schiebe ich ihn schon wieder von mir weg und sehe mich panisch nach allen Seiten um – verdammt noch mal, Paula, du bist in Afghanistan, du kannst hier nicht einfach in aller Öffentlichkeit einen Mann küssen!
Ich stoße einen Seufzer der Erleichterung aus, als ich sehe, dass die von hohen Mauern gesäumte Straße völlig menschenleer ist. Doch dann fällt mir etwas anderes auf.
„Do you have any idea, where we are?” frage ich Enrique, der mich mit einem verwirrten Lächeln ansieht.
„No. I tink, we are lost,” antwortet er fröhlich.
Wir haben uns tatsächlich verirrt, und es dauert fast zwei Stunden, bis wir aus den reinen Wohnvierteln, in die wir geraten sind, herausgefunden haben und sich vor uns ein vertrauter Platz – der mit dem Supermarkt – ausbreitet. Von dort finden wir leicht zum Hotel zurück.
Im Hof ist es schon dunkel, offenbar sind die Anderen bereits schlafen gegangen.
Der Hotel-Manager kommt aus dem Seitengebäude, und als ich ihm sage, dass wir uns verlaufen hätten und schrecklich durstig sind, bringt er uns zwei Flaschen Cola.
Ich bitte ihn, Inge und mich am nächsten Morgen zu wecken, und er erklärt mir, dass meine Freundin ihn bereits damit beauftragt hätte.
Enrique dreht einen kleinen Joint, den wir zu dritt rauchen.
Ich erzähle dem Afghanen, dass es mir gleich am ersten Abend in seiner Stadt so entsetzlich schlecht ging, das ich nicht mehr daran geglaubt hätte, dass es mir hier jemals gefallen könnte. Doch nun, nach nur zwei Tagen in seinem Hotel, fände ich Kabul ganz wundervoll.
„You will travel to Asia again – and of course you will come to Kabul again,” schmunzelt er.