13. September
Am nächsten Morgen klopft es schon kurz nach Sonnenaufgang an der Tür – unser Fahrer will versuchen, Pakistan heute zu durchqueren und am Abend schon in Indien zu sein.
Indien!
Es ist gerade mal ein Monat vergangen, seit wir in Hamburg gestartet sind, aber mir kommt es so vor, als sei das mindestens ein Jahr her. So viel habe ich in diesen vier Wochen gesehen und erfahren, was ich mir vor dieser Reise nicht in meinen wildesten Träumen hätte ausmalen können.
Und jetzt werde ich nach Indien kommen, in das Land, das für mich der Inbegriff des geheimnisvoll-märchenhaften Morgenlandes ist!
Wir fahren den ganzen Tag, und ich stelle bald fest, dass ich das Treiben auf und entlang der Straße, die Landschaft und die Gebäude nicht aufregend genug finde, um wach zu bleiben. Alles ist schön grün, aber auch völlig flach. Es gibt keine Berge mehr, keine dramatischen Schluchten und schroffen Felsen, nicht einmal sanfte Hügel.
Von der pakistanischen Hauptstadt Islamabad und der für ihre Moscheen und einen besonders schönen Garten berühmten Stadt Lahore bekommen wir so gut wie nichts zu sehen, weil Rolf nur kurze „Pinkel-Pausen” in etwas dünner besiedelten Gegenden einlegt.
Und es ist brütend heiß und schwül. Sogar der Fahrtwind, der durch die geöffneten Fensterklappen des 608 herein weht, klatscht einem ins Gesicht wie ein feucht-warmer Waschlappen.
So verbringe ich den Nachmittag überwiegend schlafend, aber mein Schlaf ist nur leicht und sehr unruhig. Die drückende Hitze lässt mich immer wieder schweißgebadet aufwachen und zum Trinkwasser-Kanister klettern, um einen Becher des lauwarmen Nass herunter zu stürzen.
Auch am frühen Abend, als die Sonne schon sehr tief steht, kühlt es nicht im Geringsten ab.
Mittlerweile kann ich nicht mehr schlafen, aber erfrischt fühle ich mich dennoch nicht.
Rolf bringt den Bus zum Stehen, was an sich nichts Besonderes ist, denn die Verkehrssituation auf den mit zwei‑, drei- und vierrädrigen Fahrzeugen aller Art überfüllten Straßen hierzulande zwingt ihn regelmäßig, zu bremsen.
Diesmal aber macht er den Motor aus und sagt laut und deutlich: „Scheiße!”
Ich rutsche von der Matratze runter und bücke mich, um durch den Mittelgang nach vorn zu gucken. Vor uns steht der Verkehr, PKWs und LKWs blockieren die Straße, soweit das Auge reicht.
Unser Fahrer weiß sofort, was los ist. Was er an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan befürchtet hatte, ist jetzt hier passiert:
„Die haben die Grenze dicht gemacht! Verdammte Pakis, verdammte Inder! Können die sich nicht einfach mal vertragen und den Grenzverkehr vernünftig abwickeln?”
Fluchend steigt Rolf aus, läuft am Straßenrand entlang und versucht wohl, die Länge der Autoschlange zu erkunden.
Catherine verschwendet keine Energie für einen Wutausbruch, sondern fragt in die Runde:
„Ich habe noch einen Haufen Kartoffeln aus Kabul und ein paar Zwiebeln. Was haltet ihr von Kartoffelsuppe?”
„Mir ist dieses scharfe Essen gestern Abend nicht bekommen,” meint Agnes, „ich hätte lieber nur ein ganz mildes Kartoffelpüree.”
„Kartoffelpüree und weiter nichts? Das ist ja öde. Ich bin dagegen!” protestiert Inge.
Catherine seufzt.
„Wenn wir die Suppe ohne geröstete Zwiebeln machen, nur aus Kartoffeln und Gemüsebrühe, dann ist das doch auch ganz mild, oder?”
Nein, Agnes will keine Suppe. Weil sie mit ihrem Püree-Wunsch aber allein bleibt, drückt Rosi ihr schließlich ihren kleinen Camping-Kochtopf in die Hände und sagt in einem erstaunlich genervten Ton zu ihrer Freundin:
„Also, ich schäle jetzt mal Kartoffeln für die Suppe. Mach dir dein Püree doch selber.”
„Ich schneide die Zwiebeln,” biete ich an, denn wenn Agnes sich ein Extra-Essen zubereitet, spricht ja nichts mehr gegen Röstzwiebeln.
Später, wir haben das Essen schon fast fertig, kommt Rolf zurück und ist immer noch katastrophal schlecht gelaunt. Erst sagt er fast gar nichts, und dann verkündet er, dass es ihm nicht gut gehe und dass heute Nacht in seinem Bus seine Ruhe haben müsse – sprich: wir Passagiere sollen draußen neben dem Bus schlafen.
„Das ist in dieser Gegend hier völlig ungefährlich; außerdem machen’s die anderen auch,” meint er, und tatsächlich haben sich neben der Straße schon einige in Tücher eingewickelte Gestalten zum Schlafen niedergelegt.
Agnes protestiert, auch ihr gehe es nicht gut, sie habe Durchfall, aber unser Fahrer bleibt hart. So schlimm könne ihre Diarrhöe im übrigen nicht sein, mosert er sie an, wenn sie noch einen ganzen Topf voller Kartoffelpüree verputzen könne. Wenn ich an die drei Tage in Kabul denke, in denen Inge und ich kaum eine Tasse Tee bei uns behalten konnten, hat er damit wohl recht.
Die Vorstellung, am Straßenrand zu nächtigen, finde ich zwar auch nicht gerade besonders angenehm, aber im Moment beschäftigt mich eine andere Sorge viel mehr:
„Ich muss mal – hier gibt es aber weit und breit weder Toilette noch Wäldchen…?”
„Wir machen es einfach so wie in Persien.” schlägt Anna vor, „wir gehen alle zusammen und halten abwechseln Wache. Irgendein Gebüsch oder Gemäuer werden wir schon finden.”
Gesagt, getan.
Als wir zurück kommen, hat Rolf für uns eine große Plastikplane als Schlaf-Unterlage neben dem Bus ausgebreitet.
Rosi fängt allen Ernstes noch an, ihr Zelt aufzubauen.
„Für solche Gelegenheiten habe ich es doch dabei!” erklärt sie munter.
Es ist ein Zwei-Personen-Zelt, und selbstverständlich ist der zweite Platz reserviert für die demonstrativ leidende Agnes.
Ich schlüpfe in meinen Schlafsack, und obwohl es unerträglich heiß darin ist, wage ich nicht, den Reißverschluss zu öffnen – zu groß ist die Angst, irgendwelche Krabbeltiere würden zu mir herein kriechen.
Es ist eine stockfinstere, mondlose Nacht.
Ich schwitze und kann nicht einschlafen. Nach kurzer Zeit beginnt meine Kopfhaut zu kribbeln, dann juckt es an diversen Stellen am ganzen Körper…
Es ist einfach grauenvoll, mindestens so schlimm wie meine erste Nacht in Istanbul in jenem Horror-Hotel. Nur kann ich diesmal leider nicht in den 608 flüchten.
Ich liege direkt daneben, und ich darf nicht hinein.
Als ich schließlich einschlafe – vermutlich als allerletzte der vor der Grenzstation Gestrandeten – ist es weit nach Mitternacht.
Weiterlesen » 16. Burunduks und Phat-a-Phats