21. August
Am nächsten Morgen sehe zu, dass ich aus Rolfs „Zuhause” verschwinde, bevor er munter genug ist, um mir einen Vortrag zum Thema „Fahrer, nicht Kindermädchen” zu halten.
Auf dem Weg Richtung „Pudding Shop” kommt mir Inge entgegen.
Sie ist erleichtert, mich wohlbehalten wiederzusehen, und erzählt mir stolz, dass sie bereits eine neue Unterkunft organisiert hat: „Ich hab ein Doppelzimmer genommen, denn das wird dir auch gefallen!” Auf meinen skeptischen Blick hin schlägt sie vor, direkt dorthin zu gehen, um mein Gepäck dort zu deponieren.
„Es ist gleich da vorn um die Ecke, schräg gegenüber der Hagia Sophia.”
Das Gebäude, zu dem sie mich führt, nennt sich „Youth Hostel”, hat aber mit einer Jugendherberge, wie ich sie aus Deutschland kenne, wenig Ähnlichkeit.
Als erstes betritt man einen mit Blumenkübeln und Rankgewächsen ansprechend gestalteten Innenhof, in dem eine Art Bistro untergebracht ist. Fast alle Tische sind mit jungen Leuten besetzt, die sich auf englisch, aber auch in diversen anderen Sprachen unterhalten.
Inge durchquert den Hof und führt mich die Treppe hinauf zu „unserem” Zimmer, und ich bin sehr angetan – es ist zwar nicht groß und recht einfach in der Ausstattung, aber dafür hell und sauber. Als sie mir auch noch sagt, wie günstig dieses Zimmerchen ist, bin ich vollends begeistert.
„Wie hast du das gefunden?” will ich von ihr wissen.
„Ich hab einfach zwei Kanadierinnen gefragt, wo sie wohnen. Die sahen nämlich so beneidenswert frisch geduscht und ausgeruht aus!” erklärt Inge grinsend.
„Apropos Duschen… ‚” sie deutet mit dem Daumen zur Tür, „das Bad ist im Flur. Und gar nicht mal so übel. Allerdings kann’s dir passieren, dass das warme Wasser plötzlich alle ist und du dir die Haare kalt ausspülen musst.”
Wenn es weiter nichts ist…
Nachdem ich geduscht und meine Sachen verstaut habe, gehe ich in den Hof hinunter, wo Inge bei einem Glas Tee sitzt und Grüße auf Ansichtskarten schreibt, die sie in der Rezeption gekauft hat. Ich bestelle mir auch einen Tee und ein Sandwich und komme langsam zu der Auffassung, dass Istanbul – bei Tageslicht besehen – doch eine ganz schöne und interessante Stadt zu sein scheint.
Als Inges Karten fertig beschrieben sind und ich meinen Imbiss verputzt habe, schlendern wir zum Bosporus-Ufer hinunter und bewundern die vor vier Jahren fertiggestellte Hängebrücke, die den europäischen Kontinent mit Kleinasien verbindet.
Fast noch mehr bin ich von den alten Autos fasziniert, die hier überall herumfahren. Ich frage mich, wann und wie diese zum Teil bemerkenswert gut erhaltenen Oldtimer (soweit ich es erkennen kann, handelt es sich überwiegen um amerikanische Fabrikate) wohl nach Istanbul gekommen sind.
Für meinen Vater, der in jungen Jahren als Karosserie-Entwurfszeichner bei der Auto Union in Chemnitz gearbeitet hat und leidenschaftlicher Autonarr ist, fotografiere ich ein paar der interessantesten Modelle.
Dann geht es zum „Pudding Shop”, denn es ist schon fast Mittag.
Rolf, Catherine, Anna und Ulli sitzen dort bereits, in einer aus mehreren zusammengeschobenen Tischen bestehenden Runde, zusammen mit einigen überwiegend langhaarigen und braun gebrannten Typen, deren Fahrzeuge vermutlich ebenfalls auf dem Parkplatz gegenüber stehen.
„Na, da kommt ja die nächtliche Ruhestörerin,” begrüßt mich Rolf, wieder bestens gelaunt. Zur Gaudi der Umsitzenden schildert er meine Flucht vor Bettwanzen und Junkies und meinen „Überfall” auf den Bus um ein Uhr in der Früh’ („Ich dachte schon, die Polizei von Istanbul würde neuerdings um Mitternacht Fahrzeugkontrollen durchführen…”) in höchst dramatischen Tönen.
Ob wir denn inzwischen wenigstens eine anständige Unterkunft gefunden haben, will der Bärtige aus dem Post-Transporter wissen, sonst könne er uns ein paar Hotels empfehlen. Als Inge erklärt, wo sie ein Zimmer gemietet hat, wird rundum beifällig genickt; ja, das ist eine gute Adresse, günstig, aber wanzenfrei.
Wir bleiben über zwei Stunden im „Pudding Shop”, essen da zu Mittag und erfahren von Rolf, dass wir bis zum Morgen des 25. August („Wer bis zehn Uhr nicht beim 608 aufgetaucht ist, muss sehen wie er allein weiterkommt – ich fahre dann jedenfalls los!”) in der Stadt bleiben werden. Auch Rosi und Agnes tauchen auf; sie haben inzwischen ebenfalls eine akzeptablere Bleibe gefunden.
Immer wieder lässt einer der „alten Hasen” an unserem Tisch eine abfällige Bemerkung über Leute fallen, die „als Hippies verkleidet” das legendäre Restaurant betreten und, da derzeit sämtliche Tische besetzt sind, betont lässig in der Gegend herumstehen.
„Der ist wahrscheinlich für drei Tage nach Istanbul geflogen und erzählt hinterher im Büro von seinm ‘großen Abenteuer Orient’,” heißt es dann beispielsweise, oder „pass mal auf, der Möchtegern-Mick-Jagger da drüben bestellt sich bestimmt gleich einen Hasch-Pudding!”, oder – und das ist wohl die schlimmste Beleidigung, die die Jungs sich vorstellen können – „Neckermänner!”.
Mir gegenüber sind sie jedoch ausgesprochen zuvorkommend.
Dabei ist die Geschichte meiner panischen Nachtwanderung durch Istanbul doch wohl Beweis genug, dass ich ein ebenso ahnungsloses Greenhorn bin wie die „Möchtegern-Mick-Jaggers” und „Neckermänner”. Auch ich bin schließlich Jemand, der nicht – oder zumindest noch nicht – wirklich zum erlesenen Kreis der Indien- und Nepalfahrer dazugehört.
Als Inge und ich aufbrechen, weil wir uns den „Großen Bazar” ansehen wollen, und mein Blick noch einmal durch den gut gefüllten „Pudding Shop” schweift, ahne ich den Grund für die freundliche Nachsicht, die mir zuteil wird.
Mir fällt auch wieder ein, was ich heute morgen dachte, als ich zwischen den Wagen der Indienfahrer hindurchging:
Ohne männliche Begleitung reisende Frauen gibt es fast gar nicht.
Bei den Männern hingegen ist der allein oder mit anderen Männern zusammen reisende Indienfahrer die Regel. Nur einige wenige sind, wie Rolf, mit Freundin oder Frau unterwegs.
„Weißt du eigentlich, dass uns die Männer bald scharenweise zu Füßen liegen werden?” frage ich Inge, während wir in die Richtung gehen, in der sich der KapalÄѠÇarşÄѼ befinden soll. Sie sieht mich erstaunt an.
„Na, überleg’ doch mal: lauter junge Kerls, die zum Teil monatelang allein umher reisen – und keine Möglichkeit haben, irgendeine Frau näher kennen zu lernen. Ich meine, selbst wenn es ihnen gelingt, mit einer Einheimischen anzubandeln, dann müssen sie die normalerweise schleunigst heiraten. Und gleich Mitglied eines Großfamilienclans werden, das will bestimmt nicht jeder…”
„Das bedeutet doch aber nichts anderes, als dass diese Typen irgendwann jeder Frau aus dem Westen zu Füßen liegen – selbst wenn sie aussieht wie Godzilla mit Brüsten,” lacht Inge mich aus. „Nach ein paar Monaten stehen die Jungs derartig unter Druck, dass du dir als Frau wirklich nichts darauf einbilden kannst, wenn sie dir sabbernd hinterher laufen!”
„Stimmt, da hast du recht.” So hatte ich das noch gar nicht gesehen.
„Okay, vergessen wir das. Irgendwie hat man eh’ immer nur Scherereien mit den Kerls.” Achselzuckend gehe ich weiter.
„Mach dir nichts draus,” tröstet mich Inge. „unsere Reise wird bestimmt auch ohne Männer interessant. Hey, guck mal, da vorne geht’s in den Bazar…”