23. August
Inge und ich haben uns mit Catherine für etwa zehn Uhr verabredet, weil wir nun natürlich auch noch in das „richtige” Hamam wollen. Treffpunkt ist – was sonst – der „Pudding Shop”. Als wir dort ankommen, sitzen auch Anna, Rosi und Agnes in der Runde der Indienfahrer, und wollen ebenfalls mit.
Zum ersten Mal unternehmen alle sechs Frauen aus dem 608 etwas gemeinsam…
Dieses Hamam ist nicht ganz so leicht zu finden wie das, in dem wir gestern gewesen sind, der Eingang für Frauen liegt versteckt in einer Nebenstraße. Nach dem Auskleiden und Duschen geht es hinauf in den ersten Stock in das eigentliche, von einer Kuppel gekrönten Dampfbad.
Hier sind wir die einzigen Ausländerinnen, und es wird ausschließlich türkisch gesprochen. Eine Verständigung ist nur mit Händen und Füßen möglich, was aber überraschend gut klappt.
Die Istanbuler Besucherinnen finden uns höchst amüsant und bedeuten uns kichernd, was wir in welcher Reihenfolge tun sollen.
Es sind Frauen jeden Alters, wunderschöne junge Mädchen mit hüftlangen, rabenschwarzen Haaren, mollige Mamas mit Kindern – zu unserem Erstaunen laufen sogar zwei fünf- oder sechsjährige Jungen im Hauptraum umher – und auch einige alte Frauen, manche ganz dürr, andere eher unförmig.
Ich habe noch nie eine alte Frau nackt (oder zumindest fast nackt) gesehen und bin total fasziniert, bemühe mich aber, die Ladies nicht anzustarren.
Da habe ich nun immer geglaubt, Wunder wie aufgeklärt und unverklemmt zu sein – schließlich brach in Westeuropa die „sexuelle Revolution” aus, als ich grad in der Pubertät war – und habe mitleidig (was in diesem Fall nichts anderes bedeutete als: hochmütig) auf die auch bei dieser Affenhitze von Kopf bis Fuß verhüllten türkischen Frauen herabgesehen… von denen die meisten wohl nur die Chance auf einen einzigen Sexualpartner im Leben haben, ihren Ehemann. Und den haben womöglich ihre Eltern für sie ausgesucht.
Hier sitzen sie nun, die von mir Bedauerten, und machen absolut keinen bedauernswerten Eindruck. Sie waschen oder färben sich gegenseitig die Haare, lachen, scherzen, haben enorm viel Spaß miteinander und genießen offensichtlich jede Minute in dieser friedlichen kleinen Welt ohne Männer. Ob es früher in einem osmanischen Harem wohl auch so entspannt und heiter zuging?
Ich denke an meine Mutter, deren einziges Vergnügen mit ihren Freundinnen ein Kegelabend alle 14 Tage ist, und an ihr gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper. Ich überlege, wie selten ich in Hamburg mit anderen Frauen zusammen Spaß hatte – weil wir jungen, ungebundenen Dinger im Grunde genommen immer und überall Konkurrentinnen im Rennen um die heißesten Typen sind. Und ich begreife, dass ich noch niemals neben einer nackten alte Frau gesessen habe, weil sich im Deutschland der 70er Jahre eben nur junge (und dem gängigen Schönheitsideal einigermaßen entsprechende) Mädels in eine öffentliche Sauna trauen… Während hier, in dieser „altmodischen” Kultur, schon kleine Kinder ganz selbstverständlich und am lebenden Beispiel lernen, wie vergänglich die glatte Schönheit der Jugend ist.
Wer hat da wohl das unverklemmtere Verhältnis zum menschlichen Körper?
Nachdem wir etwa eine Viertelstunde lang geschwitzt, Tee getrunken und uns ein ums andere Mal mit Wasser übergossen haben, kommt eine große, alte Frau auf sonderbaren Holzlatschen herein, die ein Tuch um die Hüfte trägt und von den Frauen besonders respektvoll behandelt wird.
Eine türkische Badbesucherin, die ein paar Worte Englisch spricht, erklärt uns, dies sei die „Natir”, die Badefrau, und sie wolle wissen, wer von uns eine „Massage” wünscht.
Die Natir ist zwar alt, sieht aber bemerkenswert muskulös aus… Meine Mitreisenden winken eine nach der anderen ab, und am Ende riskieren es nur Catherine und ich, uns in die Hände dieser alten Dame mit der Ringerstatur zu begeben.
Sie winkt mich zu einer steinernen Liegebank und bedeutet mir, mich bäuchlings darauf zu legen. Was dann passiert, hat mit einer „Massage”, wie ich sie kenne, wenig zu tun.
Die Badefrau streift sich eine Art Waschhandschuh aus grobem, kratzigen Material (ich halte es für Sisal, erfahre aber später, dass es Ziegenhaar sein soll) über die rechte Hand und beginnt, mich damit von oben bis unten kräftig abzuschrubben.
Es brennt ordentlich, aber ich will mich nicht blamieren und gebe keinen Mucks von mir, auch nicht, als sie mich handgreiflich dazu nötigt, mich umzudrehen, und meine empfindlichere Vorderfront mit denselben energischen Bewegungen abrubbelt.
Entspann dich, sage ich mir, die macht das dauernd, die wird dich schon nicht verletzen. Schließlich hat so eine Natir einen Ruf zu verlieren… Und wirklich: als ich mich in mein Schicksal ergebe, ist das Geschrubbel gar nicht mehr so übel.
Nach einer Weile – es dürfte sich inzwischen keine abgestorbene Hautzelle, kein einziges Schweiß- oder Schmutzmolekül mehr auf meinem Leib befinden – packt die Alte den Handschuh beiseite und nimmt von einem Stapel weißer Tücher das oberste.
Es handelt sich, wie ich jetzt sehe, um einen Stoffbeutel, den sie knetet und auf den Stein schlägt und in den sie dann hineinbläst, bis er anfängt, dicke Schaumflocken abzusondern. Die Säcke sind offenbar mit Seife getränkt.
Nun werde ich mit weichem, wundervoll duftenden Schaum bedeckt, und zwar so flächendeckend, dass ich vorsichtshalber die Augen schließe und mich ganz aufs Fühlen (und Riechen) beschränke.
Und ich fühle, ich werde eingeseift…
Die Natir beginnt mit dem Gesicht, streicht über die Wangen, umkreist meine Ohrmuscheln, und plötzlich fühle ich ihre seifigen Finger in meinen Ohren.
Ich stoße unwillkürlich ein leises Kieksen aus, weil das ein wenig kitzelt – und ich es einfach vollkommen irre finde, dass mir (einer erwachsenen jungen Frau) jemand anders die Ohren wäscht.
Undeutliche Kindheitserinnerungen steigen an die Oberfläche meines Bewusstseins, Erinnerungen daran, in einer kleinen Plastikwanne mit warmem Wasser gesessen zu haben, während die seifigen Finger meiner Mutter meine Ohren reinigten…
Die Badefrau fährt fort, jeden Quadratzentimeter meines Körpers mit Seifenschaum zu massieren. Sie dreht und wendet mich auf dem Marmor wie einen glitschigen Fisch, hebt meine Arme und Beine an und cremt zuletzt jeden einzelnen Zeh einzeln mit Seife ein.
Wieder ist es so, dass ich mich nur in dieses ungewohnte Gefühl hineinfallen lassen muss, und schon ist es nicht mehr unangenehm. Nein, von dieser alten Badefrau eingeseift und gewaschen zu werden wie ein Baby, ist sogar wunderschön!
Am Ende der Massage werde ich mit mehreren Wassergüssen abgespült und sitze leicht benommen auf der Marmorbank.
Die Natir kramt in ihrer Kiste, und als sie wieder zu mir herüber kommt, ist sie dabei, ein altmodisches Rasiermesser an einem Wetzstein zu schärfen. Ich reiße meine Augen misstrauisch-fragend auf und mache mit den Händen eine abwehrende Bewegung – was soll das jetzt werden? Sie deutet mit dem Messer auf meinen Schoß. Sie will mein Schamhaar entfernen.
Ich schüttele energisch den Kopf: Nein, diesen Teil der Prozedur lassen wir weg.
Die Natir redet auf mich ein. Es hört sich an, als wenn sie mit einem ungezogenen Kind schimpft. Auch einige der Frauen im anderen Teil des Raums mischen sich ein, und die Frau, die etwas englisch kann, kommt herüber und erklärt mir, dass unrasiert zu sein „no good” wäre. Vielleicht spricht sie aber auch nur „no god” etwas eigenartig aus und meint, dass sich nicht zu rasieren irgendwie gottlos sei.
Vorher habe ich gar nicht darauf geachtet – die meisten Frauen tragen ja auch ein Tuch um die Hüfte – aber nun sehe ich, dass alle Türkinnen Achsel- und Schamhaar abrasiert haben.
Trotzdem muss ich die netten Frauen enttäuschen und weigere mich entschieden, die Nadir mit dem Rasiermesser an meinen Pelz zu lassen. Wie lange habe ich – körperlich ein echter „Spätentwickler” – als Teenager darauf warten müssen, bis da endlich ein paar Härchen sprossen! Die werde ich doch jetzt nicht dieser alten Dame opfern, bloß weil sie mir die Ohren gewaschen hat.
Als wir nach einigen Stunden aus dem Hamam kommen, fühle ich mich gründlicher gereinigt als je zuvor – auf sonderbare Weise auch innerlich…
Inge und ich schlendern zur Blauen Moschee, die wir uns endlich auch mal von innen angucken wollen. Aber als wir dort ankommen, ruft der Muezzin gerade zum Gebet, und die Gläubigen strömen zum Eingang der Moschee. Wir beschließen also, stattdessen zum Ufer des Bosporus hinunterzugehen und dort ein Restaurant zu suchen. So ein Hamam-Besuch macht hungrig!
„Aber ich will unbedingt noch mal da rein,” sagt Inge, „immerhin ist morgen unser letzter Tag hier in Istanbul, und wir haben weder die Blaue Moschee, noch die Hagia Sophia, noch das Topkapi Museum besichtigt. Ich wette, Rosi und Agnes waren damit schon nach dem ersten Tag durch…”
„Dann machen wir eben morgen das volle Kulturprogramm,” verspreche ich ihr. „Sultan Ahmed Moschee, Hagia Sophia, und wenn wir’s schaffen, auch noch den Topkapi-Palast!”
Wir kommen an einem Haushaltswaren-Geschäft vorbei, und mir fällt ein, dass ich mir noch eine Ess-Schale kaufen wollte. Jeder von uns hat ja eigenes Geschirr und Besteck mit (für die unterwegs selbst zubereiteten Mahlzeiten), aber ich habe in Griechenland gemerkt, dass der Blechteller, den ich dabei habe, ungeeignet ist – viel zu flach für auf dem Campingkocher zubereitete, eintopfartige Gerichte.
Der Laden ist groß, verwinkelt und so vollgestopft mit den erstaunlichsten Dingen, dass wir uns eine gute Viertelstunde darin aufhalten. Schließlich finde ich eine emaillierte Schale (mit einem herrlich kitschigen Rosen-Dekor), die umgerechnet weniger als eine Mark kostet, und bezahle sie bei dem alten Herrn an der Kasse.
Wir sind schon fast am Ende der Straße angekommen, als wir ein lautes „Hallo! Hallo!” hinter uns hören. Als wir uns umdrehen, sehen wir einen Jungen angerannt kommen, der wild die Arme schwenkt und mit seinen Rufen offenbar uns meint.
„You come, you come shop,” stößt er atemlos hervor, als er uns erreicht hat.
Erst bin ich etwas unwillig – hat der Alte sich etwa überlegt, dass er von einer Touristin mehr verlangen könnte? – aber dann beschließen wir doch, dem Knaben zurück zum Laden zu folgen.
Dort steht der alte Mann vor dem Verkaufstresen. Und reicht mir freundlich lächelnd meinen Brustbeutel, in dem sich mein Pass, mein Impfausweis, meine American Express Traveller Schecks und etwa achthundert Mark in bar befinden. Ich hatte ihn zusammen mit meiner Kleingeld-Börse herausgeholt und auf den Tresen gelegt – und dann offenbar nur meine Börse wieder eingesteckt. Ich kriege ganz weiche Knie.
Der Ladeninhaber nötigt mich, nachzuschauen, ob etwa fehlt.
Ich werfe einen flüchtigen Blick hinein – Ausweise, Geld, Schecks, alles ist noch da.
Was bin ich froh, dass ich mir in jedem Land, in das ich komme, als Erstes immer die folgenden (meiner Ansicht nach wichtigsten) vier Worte in der Landessprache einzuprägen versuche: „Ja”, „Nein”, „Danke” und „Bitte”. So kann ich mich wenigstens in seiner Sprache bei ihm bedanken.
„Teşekkür, Teşekkür ederim,” wiederhole ich immer wieder.
Der alte Herr lächelt nur und winkt ab. Er erklärt mir etwas, was ich nicht verstehe, aber ich höre das Wort „Allah” heraus. Als er dann noch gen Himmel deutet und weise lächelnd mit dem Kopf nickt, weiß ich trotz der Sprachbarriere, was er gesagt hat:
„Gott sieht Alles.”
„Mensch, was bin ich für ein schusseliger Trottel,” seufze ich, als wir wieder auf der Straße stehen, „wäre der gute Mann nicht so ehrlich gewesen, dann hätte das eben für mich das Ende der Reise bedeutet.”
„Vor allem bist du ein Riesen-Glückspilz,” antwortet Inge. „Wenn ich bei dieser Geschichte nicht selbst dabei gewesen wär’, würde ich sie dir nicht glauben.”