Der nächste Tag war ein Sonnabend, also keine Vorlesungen für mich. Maria hatte eine um acht in einem Institut in der Nähe. Sie studierte Medizin, unsere Studienpläne liefen auf ganz verschiedenen Gleisen. Ich streckte mich und drehte mich noch einmal auf die andere Seite im Bett, als sie fortgegangen war. Dann fiel mir das Wort ein, das Maria im Schlaf gesagt hatte, und machte mich hellwach. Warum rief sie nach ihrem Mann, warnte ihn, hatte Angst um ihn? Sie hatte doch gesagt, sie liebe ihn nicht, hatte den Ring abgetan. Wovor hatte sie Angst? Es war mir klar, dass die Briefe mit ihrer Angst zu tun, dass sie sie ausgelöst hatten. Was für Briefe konnten das sein? Warum hätte ich sie lesen können und andere nicht?
Schlaf und Ruhe waren mir jetzt vergangen. Ich stand auf und fing an, meinen kleinen Haushalt in Ordnung zu bringen. Ein kleines Häufchen von Strümpfen und Wäsche hatte sich angesammelt, das nach Hause zu schicken sich nicht gelohnt hätte. Ich nahm Seifenpulver, Waschzeug und die Wäsche aus dem Schrank, dazu den größten meiner Töpfe, und ging hinüber in den Waschraum. Während ich mich wusch, fing das Wasser auf dem Gaskocher draußen in der Kochnische an zu sausen. Ich zog mich an, machte die Lauge zurecht, und bald danach hing alles, im Frotteetuch säuberlich ausgedrückt, auf einer Leine vor den geöffneten und festgehakten Fensterflügeln in unserem Zimmer. Danach ging ich hinunter in die Konsumfiliale, um alles für das Wochenende einzukaufen, und deckte den Tisch. Wir wechselten uns ab, Maria und ich. Jede hatte eine Woche lang für das Nötige zu sorgen.
Maria kam. Sie hatte sonst helle Haut, ohne dabei blass auszusehen. Heute war sie blass. Ich vermisste die blaue Blume am Aufschlag ihres Kostüms, oder vielmehr: ich vermisste sie nicht, ja, ich hätte sie im Stillen dazu beglückwünscht, hätte ihre Blässe mir keine Angst gemacht.
Sie war eilig die Treppe heraufgekommen und trat ins Zimmer wie auf der Flucht vor irgendetwas, obwohl es keinen vernünftigen Grund dafür zu geben schien. Aber ich hatte das Gefühl, als hätte sie am liebsten den Schlüssel im Türschloss hinter sich umgedreht.
Sie hatte ein Sträußchen von Himmelschlüsseln in der Hand, auf mich wirkte es wie der Versuch, mir Behaglichkeit und Muße vorzutäuschen. Denn wer bleibt schon an einer Straßenecke stehen bei einer Frau mit einem Blumenkorb oder auch am Blumenmarkt, um Blumen zu kaufen, wenn er nicht Muße hat und sich behaglich fühlt?
„Ah! Milchbrötchen”, sagte sie mit einem Blick auf den gedeckten Tisch, aber es klang nicht, als hätte sie viel Freude dran. Sie nahm ein Glas aus dem Schrank, holte Wasser im Waschraum. Sie stellte es mit den Himmelschlüsseln auf den Tisch zwischen ihren Platz und meinen.
„Wie zu Hause”, sagte ich. „Da haben wir sie immer gepflückt, zu Ostern oben im Gebirge. Dort waren die Wiesen ganz golden.” Aber es klang nicht viel munterer. Flau und fade war die Luft im Zimmer. Maria zog sich die Jacke aus und setzte sich.
„Ich glaube, ich habe mich blöd aufgeführt gestern abend”, sagte sie im Tone der Entschuldigung. „Ich wollte Sie ja nicht beleidigen, ich war bloß so — so nervös. Es tut mir leid jetzt.”
„Ach, lassen Sie doch, reden wir nicht mehr davon.” Ich strich mein Brötchen, mir schmeckte es.
„Nein, nein”, beharrte sie, „es muss Ihnen schon komisch vorgekommen sein. Vielleicht kann ich es Ihnen erklären eines Tages –” sie zuckte die Schultern, „Nur — bis dahin — bitte sprechen Sie zu niemanden davon ja? Es ist komisch”, fuhr sie fort, um meine Bemerkung abzufangen, dass eine solche Mahnung nicht nötig sei, „zu Ihnen habe ich Vertrauen. Ich weiß nicht, wieso.”
Die Mahnung zum Schweigen hatte mich allerdings gekränkt. Als ginge ich wie eine Elster von Haus zu Haus, das Neueste auszutratschen. „Vielleicht hängt das mit meinem ehrlichen Gesicht zusammen”, meinte ich etwas spöttisch. „Und so sehr groß ist das Vertrauen ja nun auch wieder nicht.”
Sie überhörte meine Aufforderung zur mehr Offenheit.
„Manchmal möchte ich weit weg”, sagte sie, „am liebsten übers Meer. Hier bleibt man immer in allem drin, man kann nicht davor weglaufen.”
„Auf dem Meer ist es nicht gemütlich, jetzt, mitten im Krieg”, sagte ich.
„Für mich ist es hier auch nicht mehr sehr gemütlich”, erwiderte sie und rührte in ihrer Teetasse. Nun stand das Geheimnis wieder im Raum, an dem ich keinen Anteil hatte. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr, mehr darüber zu erfahren. Es war, als müsste es den sanften Schleier zerreißen, der über diese Stadt geworfen war. Nein, ich wollte mir von Hirngespinsten diesen Zauber nicht zerstören lassen.
Deshalb antwortete ich etwas schnippisch „Also, persönlich fühle ich mich hier wunderbar”, und wir beendeten unser Frühstück in Schweigen.
Maria lag den Vormittag über auf ihrem Bett, ein paar Bücher um sich her. Ich bemerkte, dass ihr Blick oft über den Buchrand hinweg ins Leere schweifte. Ich sah das, weil ich selber zuweilen vor mich hin ins Leere sah, über meinen Zettel mit den Versen gebeugt und den Kopf in beide Hände gestützt. Mühsam hatte ich wieder zusammengeholt, was mir am Abend vorher eingefallen war. Aber neue Gedanken wollten sich nicht einstellen. Ich fühlte mich elend. Ich glaubte sicher, dass Maria sich ausgesprochen hätte, dass sie zumindest vage ihre Sorgen mir geschildert hätte, hätte ich sie nicht so angefahren. Es war meine eigene Schuld, dass sie jetzt weiter alles mit sich abzumachen hatte, obwohl ich noch am Morgen gewünscht hatte, es möchte mit den Heimlichkeiten ein Ende haben. Aber jetzt, da sie mir nahe kamen, diese Heimlichkeiten, konnte ich plötzlich doch nicht mehr wünschen, sie zu wissen. Denn immer noch hatte ich ihren angstvollen Ausruf im Ohr: „Nicht doch, Götz, sie brennen dich!”
Gegen Mittag brach die Sonne durch die Wolken. Sie zeichnete vor dem Fenster einen hellen und warmen Fleck aufs Linoleum, und die Scheiben der gegenüber gelegenen, geöffneten Fenster spiegelten sie auch in die ferneren Winkel unsres Zimmers. Maria zündete sich jetzt seltener eine Zigarette an und blies den Rauch nicht mehr so heftig, fast zornig aus. Endlich stand sie vom Bett auf und rückte sich einen Stuhl ans Fenster in die Sonne. Behaglich lehnte sie sich zurück und genoss die Sonnenwärme. Es schien so, als wiche der Alb der Nacht langsam von ihr, als flüchteten die düsteren Geister aus unseren vier Wänden, die sich den Morgen über so zähe festgesetzt hatten.
Endlich schlug sie vor, wir sollten gemeinsam zum Mittagessen gehen. Die Vegetarna schien uns für den Feiertag zu bürgerlich. Wir beschlossen, uns aus der reichhaltigeren und vielseitigeren Tageskarte eines Büfetts ein kleines Menü zusammen zu pflücken, das in allgemeinen nicht viel teurer war als die gebratenen Gemüseklopse in der Vegetarna, die Fleisch vortäuschten, ohne Fleisch zu sein. So wandten wir uns nicht abwärts zur Stadt, sondern aufwärts zu einen nahe gelegenen Platz, wo sich die großstädtische Betriebsamkeit des Wenzelsplatzes auf einem provinzielleren Grunde abspielte.