Die Geister der Moldau — Kapitel 3 Die Marionette

Der nächs­te Tag war ein Sonn­abend, also kei­ne Vor­le­sun­gen für mich. Maria hat­te eine um acht in einem Insti­tut in der Nähe. Sie stu­dier­te Medi­zin, unse­re Stu­di­en­plä­ne lie­fen auf ganz ver­schie­de­nen Glei­sen. Ich streck­te mich und dreh­te mich noch ein­mal auf die ande­re Sei­te im Bett, als sie fort­ge­gan­gen war. Dann fiel mir das Wort ein, das Maria im Schlaf gesagt hat­te, und mach­te mich hell­wach. War­um rief sie nach ihrem Mann, warn­te ihn, hat­te Angst um ihn? Sie hat­te doch gesagt, sie lie­be ihn nicht, hat­te den Ring abge­tan. Wovor hat­te sie Angst? Es war mir klar, dass die Brie­fe mit ihrer Angst zu tun, dass sie sie aus­ge­löst hat­ten. Was für Brie­fe konn­ten das sein? War­um hät­te ich sie lesen kön­nen und ande­re nicht?

Schlaf und Ruhe waren mir jetzt ver­gan­gen. Ich stand auf und fing an, mei­nen klei­nen Haus­halt in Ord­nung zu brin­gen. Ein klei­nes Häuf­chen von Strümp­fen und Wäsche hat­te sich ange­sam­melt, das nach Hau­se zu schi­cken sich nicht gelohnt hät­te. Ich nahm Sei­fen­pul­ver, Wasch­zeug und die Wäsche aus dem Schrank, dazu den größ­ten mei­ner Töp­fe, und ging hin­über in den Wasch­raum. Wäh­rend ich mich wusch, fing das Was­ser auf dem Gas­ko­cher drau­ßen in der Koch­ni­sche an zu sau­sen. Ich zog mich an, mach­te die Lau­ge zurecht, und bald danach hing alles, im Frot­tee­tuch säu­ber­lich aus­ge­drückt, auf einer Lei­ne vor den geöff­ne­ten und fest­ge­hak­ten Fens­ter­flü­geln in unse­rem Zim­mer. Danach ging ich hin­un­ter in die Kon­sum­fi­lia­le, um alles für das Wochen­en­de ein­zu­kau­fen, und deck­te den Tisch. Wir wech­sel­ten uns ab, Maria und ich. Jede hat­te eine Woche lang für das Nöti­ge zu sorgen.

Bürgerhäuser in der Spornergasse

Bür­ger­häu­ser in der Spornergasse

Maria kam. Sie hat­te sonst hel­le Haut, ohne dabei blass aus­zu­se­hen. Heu­te war sie blass. Ich ver­miss­te die blaue Blu­me am Auf­schlag ihres Kos­tüms, oder viel­mehr: ich ver­miss­te sie nicht, ja, ich hät­te sie im Stil­len dazu beglück­wünscht, hät­te ihre Bläs­se mir kei­ne Angst gemacht.

Sie war eilig die Trep­pe her­auf­ge­kom­men und trat ins Zim­mer wie auf der Flucht vor irgend­et­was, obwohl es kei­nen ver­nünf­ti­gen Grund dafür zu geben schien. Aber ich hat­te das Gefühl, als hät­te sie am liebs­ten den Schlüs­sel im Tür­schloss hin­ter sich umgedreht.

Sie hat­te ein Sträuß­chen von Him­mel­schlüs­seln in der Hand, auf mich wirk­te es wie der Ver­such, mir Behag­lich­keit und Muße vor­zu­täu­schen. Denn wer bleibt schon an einer Stra­ßen­ecke ste­hen bei einer Frau mit einem Blu­men­korb oder auch am Blu­men­markt, um Blu­men zu kau­fen, wenn er nicht Muße hat und sich behag­lich fühlt?

Ah! Milch­bröt­chen”, sag­te sie mit einem Blick auf den gedeck­ten Tisch, aber es klang nicht, als hät­te sie viel Freu­de dran. Sie nahm ein Glas aus dem Schrank, hol­te Was­ser im Wasch­raum. Sie stell­te es mit den Him­mel­schlüs­seln auf den Tisch zwi­schen ihren Platz und meinen.

Wie zu Hau­se”, sag­te ich. „Da haben wir sie immer gepflückt, zu Ostern oben im Gebir­ge. Dort waren die Wie­sen ganz gol­den.” Aber es klang nicht viel mun­te­rer. Flau und fade war die Luft im Zim­mer. Maria zog sich die Jacke aus und setz­te sich.

Ich glau­be, ich habe mich blöd auf­ge­führt ges­tern abend”, sag­te sie im Tone der Ent­schul­di­gung. „Ich woll­te Sie ja nicht belei­di­gen, ich war bloß so — so ner­vös. Es tut mir leid jetzt.”

Ach, las­sen Sie doch, reden wir nicht mehr davon.” Ich strich mein Bröt­chen, mir schmeck­te es.

Nein, nein”, beharr­te sie, „es muss Ihnen schon komisch vor­ge­kom­men sein. Viel­leicht kann ich es Ihnen erklä­ren eines Tages –” sie zuck­te die Schul­tern, „Nur — bis dahin — bit­te spre­chen Sie zu nie­man­den davon ja? Es ist komisch”, fuhr sie fort, um mei­ne Bemer­kung abzu­fan­gen, dass eine sol­che Mah­nung nicht nötig sei, „zu Ihnen habe ich Ver­trau­en. Ich weiß nicht, wieso.”

Die Mah­nung zum Schwei­gen hat­te mich aller­dings gekränkt. Als gin­ge ich wie eine Els­ter von Haus zu Haus, das Neu­es­te aus­zu­trat­schen. „Viel­leicht hängt das mit mei­nem ehr­li­chen Gesicht zusam­men”, mein­te ich etwas spöt­tisch. „Und so sehr groß ist das Ver­trau­en ja nun auch wie­der nicht.”

Sie über­hör­te mei­ne Auf­for­de­rung zur mehr Offenheit.

Manch­mal möch­te ich weit weg”, sag­te sie, „am liebs­ten übers Meer. Hier bleibt man immer in allem drin, man kann nicht davor weglaufen.”

Auf dem Meer ist es nicht gemüt­lich, jetzt, mit­ten im Krieg”, sag­te ich.

Für mich ist es hier auch nicht mehr sehr gemüt­lich”, erwi­der­te sie und rühr­te in ihrer Tee­tas­se. Nun stand das Geheim­nis wie­der im Raum, an dem ich kei­nen Anteil hat­te. Plötz­lich hat­te ich kei­ne Lust mehr, mehr dar­über zu erfah­ren. Es war, als müss­te es den sanf­ten Schlei­er zer­rei­ßen, der über die­se Stadt gewor­fen war. Nein, ich woll­te mir von Hirn­ge­spins­ten die­sen Zau­ber nicht zer­stö­ren lassen.

Des­halb ant­wor­te­te ich etwas schnip­pisch „Also, per­sön­lich füh­le ich mich hier wun­der­bar”, und wir been­de­ten unser Früh­stück in Schweigen.

Maria lag den Vor­mit­tag über auf ihrem Bett, ein paar Bücher um sich her. Ich bemerk­te, dass ihr Blick oft über den Buch­rand hin­weg ins Lee­re schweif­te. Ich sah das, weil ich sel­ber zuwei­len vor mich hin ins Lee­re sah, über mei­nen Zet­tel mit den Ver­sen gebeugt und den Kopf in bei­de Hän­de gestützt. Müh­sam hat­te ich wie­der zusam­men­ge­holt, was mir am Abend vor­her ein­ge­fal­len war. Aber neue Gedan­ken woll­ten sich nicht ein­stel­len. Ich fühl­te mich elend. Ich glaub­te sicher, dass Maria sich aus­ge­spro­chen hät­te, dass sie zumin­dest vage ihre Sor­gen mir geschil­dert hät­te, hät­te ich sie nicht so ange­fah­ren. Es war mei­ne eige­ne Schuld, dass sie jetzt wei­ter alles mit sich abzu­ma­chen hat­te, obwohl ich noch am Mor­gen gewünscht hat­te, es möch­te mit den Heim­lich­kei­ten ein Ende haben. Aber jetzt, da sie mir nahe kamen, die­se Heim­lich­kei­ten, konn­te ich plötz­lich doch nicht mehr wün­schen, sie zu wis­sen. Denn immer noch hat­te ich ihren angst­vol­len Aus­ruf im Ohr: „Nicht doch, Götz, sie bren­nen dich!”

Gegen Mit­tag brach die Son­ne durch die Wol­ken. Sie zeich­ne­te vor dem Fens­ter einen hel­len und war­men Fleck aufs Lin­ole­um, und die Schei­ben der gegen­über gele­ge­nen, geöff­ne­ten Fens­ter spie­gel­ten sie auch in die fer­ne­ren Win­kel uns­res Zim­mers. Maria zün­de­te sich jetzt sel­te­ner eine Ziga­ret­te an und blies den Rauch nicht mehr so hef­tig, fast zor­nig aus. End­lich stand sie vom Bett auf und rück­te sich einen Stuhl ans Fens­ter in die Son­ne. Behag­lich lehn­te sie sich zurück und genoss die Son­nen­wär­me. Es schien so, als wiche der Alb der Nacht lang­sam von ihr, als flüch­te­ten die düs­te­ren Geis­ter aus unse­ren vier Wän­den, die sich den Mor­gen über so zähe fest­ge­setzt hatten.

End­lich schlug sie vor, wir soll­ten gemein­sam zum Mit­tag­essen gehen. Die Vege­tar­na schien uns für den Fei­er­tag zu bür­ger­lich. Wir beschlos­sen, uns aus der reich­hal­ti­ge­ren und viel­sei­ti­ge­ren Tages­kar­te eines Büfetts ein klei­nes Menü zusam­men zu pflü­cken, das in all­ge­mei­nen nicht viel teu­rer war als die gebra­te­nen Gemü­se­klop­se in der Vege­tar­na, die Fleisch vor­täusch­ten, ohne Fleisch zu sein. So wand­ten wir uns nicht abwärts zur Stadt, son­dern auf­wärts zu einen nahe gele­ge­nen Platz, wo sich die groß­städ­ti­sche Betrieb­sam­keit des Wen­zels­plat­zes auf einem pro­vin­zi­el­le­ren Grun­de abspielte.

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