Die Geister der Moldau — Kapitel 1 Ankunft

Es gibt Augen­bli­cke, in denen wir plötz­lich um vie­les älter wer­den, um dann wie­der lan­ge anzu­hal­ten und zu blei­ben, was wir sind, bis wir den nächs­ten gro­ßen Schritt tun. Solch ein Augen­blick war es, als ich zum ers­ten Mal ins Semes­ter fuhr. Ich hat­te gedacht, dass mei­ne Mut­ter wei­nen wür­de. Aber das tat sie nicht. Schon manch­mal war ich abge­reist, aber immer nur, um über kurz oder lang wie­der­zu­kom­men. Dies­mal ging ich für immer fort. Von jetzt an wür­de ich zu Hau­se nur noch Besuch sein. Als ich zum Abschied in das ruhi­ge, freund­li­che Gesicht mei­ner Mut­ter sah, erkann­te ich, dass es Zeit für mich war, heranzuwachsen.

Mei­ne älte­re Schwes­ter stand neben ihr und schob ihren Arm in den mei­ner Mut­ter, als der Zug zu rol­len anfing. Es war gut, dass Mut­ter nicht allein heim­ge­hen muss­te an die­sem neb­lig-feuch­ten Mor­gen. Noch heu­te sehe ich sie dort auf dem Bahn­steig ste­hen und win­ken, und ich dan­ke ihr, dass sie es ohne Trä­nen tat. Damals war ich eigent­lich nur betrof­fen, im Inners­ten sogar ein wenig gekränkt, dass sie, die mich so sehr lieb­te, mich so gehen ließ.

Die frem­de Stadt emp­fing mich in Nach­mit­tags­licht. Aus einem Neben­aus­gang des Haupt­bahn­hofs trat ich hin­aus in die Son­ne. Ver­wun­dert sah ich, die ich aus dem Flach­land kam, die brei­te Groß­stadt­stra­ße sich tal­wärts nei­gen und alles, was sich auf ihr beweg­te, wie in sanf­ter Über­re­dung mit sich hin­un­ter­neh­men, wäh­rend sie zur lin­ken Hand alles berg­wärts lockte.

Ich kann­te mich nicht aus in die­ser Stadt. Mein Blick fiel auf einen der Fia­ker, die damals das Geschäft der Auto­ta­xen besorg­ten. Ein Schim­mel stand davor, nicht gebückt ins Joch der Dienst­bar­keit wie Drosch­ken­gäu­le sonst, im Gegen­teil: mit erho­be­nem Kopf schien er das Licht der Son­ne zu genie­ßen, in die ich hin­ein gera­ten war aus dem hei­mi­schen Regen­grau. Er trug einen Strauß am Ohr, Wie­sen­blu­men nur, wie man sie am Feld­rain fin­det, und schon ein wenig welk, als hät­ten sie die Mühe des Gauls auf sich genom­men. Die­ser Schim­mel mit dem Strauß am Ohr scheint mir immer wie ein Bild der Stadt, in der er mich will­kom­men hieß.

Zögernd nann­te ich, des Tsche­chi­schen nicht mäch­tig, dem Kut­scher Stra­ße und Haus­num­mer auf Deutsch. Dass er sich dar­auf mit dem Peit­schen­stiel am Kopf kratz­te, konn­te ent­we­der bedeu­ten, dass die Stra­ße sehr ent­le­gen war oder dass er mich nicht ver­stan­den hat­te. Da er aber sei­nen Schim­mel antrieb, ohne wei­te­re Aus­künf­te ein­zu­ho­len, nahm ich an, dass wir einen sehr wei­ten Weg vor uns hät­ten. Ich lehn­te mich in die abge­schab­ten Pols­ter zurück und frag­te mich, ob ich die Fahrt am Ende bezah­len könnte.

Der Schim­mel beweg­te sich mit sei­nem leich­ten Gefährt indes­sen berg­wärts, hin­auf gegen ein grün­der­zeit­li­ches, kup­pel­ge­krön­tes Unge­tüm von grau­em Stein. Ihm aus­zu­wei­chen, neig­te die Stra­ße sich ein wenig abwärts. Zwi­schen zwei Häu­ser­rei­hen senk­te sich zur Rech­ten ein brei­ter Platz nach unten.

Es war, als atme hier über­all die Erde. Ich hat­te schon Städ­te gese­hen, die sich aus einem Tal über Hügel hoch­zo­gen, auch alte Städt­chen, die die Schrift ihrer Gas­sen steil auf und ab gekrit­zelt hat­ten auf ein miss­güns­ti­ges Gelän­de. Aber hier schien es mir, als atme die Erde noch unter der Stadt, als sei sie leben­dig geblie­ben unter der Decke von Stein. Stau­nend sah ich hin­un­ter auf den Platz, über dem die Son­ne im blau­en Abend­licht schwamm.

Der Schim­mel hielt plötz­lich inne mit­ten im Trab, als hät­te er mei­ne Gedan­ken gele­sen. Da stan­den wir, und um uns her wog­te wei­ter das haupt­städ­ti­sche Trei­ben. Hin­ter uns wur­den ärger­li­che Stim­men laut. Mein Kut­scher, nach­dem er sich anfäng­lich nur mit dem Peit­schen­stiel ver­le­gen den Kopf gekratzt hat­te, ver­such­te es nun mit dem Sur­ren der Peit­schen­schnur. Pas­san­ten kamen lachend über den Damm und rede­ten dem Pfer­de güt­lich zu in ihrer frem­den Spra­che. Der Kut­scher selbst stieg end­lich ab, um es am Zau­me wei­ter­zu­füh­ren. Ich sel­ber hat­te inzwi­schen Zeit, den Platz zu begrü­ßen. Um ihn her war nichts, was man hät­te schön nen­nen kön­nen. Das stei­ner­ne Unge­tüm, das mit sei­ner Kup­pel über ihm thron­te, war eben­so wenig schön wie die Rei­hen grau­er Miets­häu­ser zu bei­den Sei­ten. Aber da war die­ses Rei­ter­stand­bild, das bereit schien, als nächs­tes über den Platz zu tra­ben — der hei­li­ge Wen­zel, wie ich spä­ter hör­te — und der Platz neig­te sich zwi­schen grü­nen Bäu­men der Abend­son­ne gegen, rau­nend von Leben und Freude.

Als ich davon genug gese­hen hat­te, setz­te der Schim­mel gelas­sen sei­nen Weg fort. Am obe­ren Ran­de des Plat­zes führ­te die Stra­ße wei­ter berg­an, und nach kur­zer Zeit hiel­ten wir vor dem grau­en Haus, das mich beher­ber­gen soll­te. Ein grau­es Haus in einer grau­en Stra­ße, so schien es mir damals. Spä­ter ver­gaß ich, dass es so häss­lich war. Ich lieb­te es ein­fach, und noch heu­te sehe ich im Traum sei­ne Zimmer.

Der Kut­scher kratz­te sich wie­der mit dem Peit­schen­stiel am Kopf. Ich sah jetzt, dass es über­haupt nichts bedeu­te­te. Ich trat noch ein­mal zu dem Schim­mel. Ich hät­te ihm gern ein Stück Zucker gege­ben, wenn ich nur eines gehabt hätte.

Er wand­te den Kopf und sah mich an. Im Bern­stein­gelb sei­ner Augen war etwas bezau­bern­des. Ich habe ihn nie wie­der­ge­se­hen. Es war, als wäre er nur eben dage­we­sen, um mich will­kom­men zu heißen.

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