Es gibt Augenblicke, in denen wir plötzlich um vieles älter werden, um dann wieder lange anzuhalten und zu bleiben, was wir sind, bis wir den nächsten großen Schritt tun. Solch ein Augenblick war es, als ich zum ersten Mal ins Semester fuhr. Ich hatte gedacht, dass meine Mutter weinen würde. Aber das tat sie nicht. Schon manchmal war ich abgereist, aber immer nur, um über kurz oder lang wiederzukommen. Diesmal ging ich für immer fort. Von jetzt an würde ich zu Hause nur noch Besuch sein. Als ich zum Abschied in das ruhige, freundliche Gesicht meiner Mutter sah, erkannte ich, dass es Zeit für mich war, heranzuwachsen.
Meine ältere Schwester stand neben ihr und schob ihren Arm in den meiner Mutter, als der Zug zu rollen anfing. Es war gut, dass Mutter nicht allein heimgehen musste an diesem neblig-feuchten Morgen. Noch heute sehe ich sie dort auf dem Bahnsteig stehen und winken, und ich danke ihr, dass sie es ohne Tränen tat. Damals war ich eigentlich nur betroffen, im Innersten sogar ein wenig gekränkt, dass sie, die mich so sehr liebte, mich so gehen ließ.
Die fremde Stadt empfing mich in Nachmittagslicht. Aus einem Nebenausgang des Hauptbahnhofs trat ich hinaus in die Sonne. Verwundert sah ich, die ich aus dem Flachland kam, die breite Großstadtstraße sich talwärts neigen und alles, was sich auf ihr bewegte, wie in sanfter Überredung mit sich hinunternehmen, während sie zur linken Hand alles bergwärts lockte.
Ich kannte mich nicht aus in dieser Stadt. Mein Blick fiel auf einen der Fiaker, die damals das Geschäft der Autotaxen besorgten. Ein Schimmel stand davor, nicht gebückt ins Joch der Dienstbarkeit wie Droschkengäule sonst, im Gegenteil: mit erhobenem Kopf schien er das Licht der Sonne zu genießen, in die ich hinein geraten war aus dem heimischen Regengrau. Er trug einen Strauß am Ohr, Wiesenblumen nur, wie man sie am Feldrain findet, und schon ein wenig welk, als hätten sie die Mühe des Gauls auf sich genommen. Dieser Schimmel mit dem Strauß am Ohr scheint mir immer wie ein Bild der Stadt, in der er mich willkommen hieß.
Zögernd nannte ich, des Tschechischen nicht mächtig, dem Kutscher Straße und Hausnummer auf Deutsch. Dass er sich darauf mit dem Peitschenstiel am Kopf kratzte, konnte entweder bedeuten, dass die Straße sehr entlegen war oder dass er mich nicht verstanden hatte. Da er aber seinen Schimmel antrieb, ohne weitere Auskünfte einzuholen, nahm ich an, dass wir einen sehr weiten Weg vor uns hätten. Ich lehnte mich in die abgeschabten Polster zurück und fragte mich, ob ich die Fahrt am Ende bezahlen könnte.
Der Schimmel bewegte sich mit seinem leichten Gefährt indessen bergwärts, hinauf gegen ein gründerzeitliches, kuppelgekröntes Ungetüm von grauem Stein. Ihm auszuweichen, neigte die Straße sich ein wenig abwärts. Zwischen zwei Häuserreihen senkte sich zur Rechten ein breiter Platz nach unten.
Es war, als atme hier überall die Erde. Ich hatte schon Städte gesehen, die sich aus einem Tal über Hügel hochzogen, auch alte Städtchen, die die Schrift ihrer Gassen steil auf und ab gekritzelt hatten auf ein missgünstiges Gelände. Aber hier schien es mir, als atme die Erde noch unter der Stadt, als sei sie lebendig geblieben unter der Decke von Stein. Staunend sah ich hinunter auf den Platz, über dem die Sonne im blauen Abendlicht schwamm.
Der Schimmel hielt plötzlich inne mitten im Trab, als hätte er meine Gedanken gelesen. Da standen wir, und um uns her wogte weiter das hauptstädtische Treiben. Hinter uns wurden ärgerliche Stimmen laut. Mein Kutscher, nachdem er sich anfänglich nur mit dem Peitschenstiel verlegen den Kopf gekratzt hatte, versuchte es nun mit dem Surren der Peitschenschnur. Passanten kamen lachend über den Damm und redeten dem Pferde gütlich zu in ihrer fremden Sprache. Der Kutscher selbst stieg endlich ab, um es am Zaume weiterzuführen. Ich selber hatte inzwischen Zeit, den Platz zu begrüßen. Um ihn her war nichts, was man hätte schön nennen können. Das steinerne Ungetüm, das mit seiner Kuppel über ihm thronte, war ebenso wenig schön wie die Reihen grauer Mietshäuser zu beiden Seiten. Aber da war dieses Reiterstandbild, das bereit schien, als nächstes über den Platz zu traben — der heilige Wenzel, wie ich später hörte — und der Platz neigte sich zwischen grünen Bäumen der Abendsonne gegen, raunend von Leben und Freude.
Als ich davon genug gesehen hatte, setzte der Schimmel gelassen seinen Weg fort. Am oberen Rande des Platzes führte die Straße weiter bergan, und nach kurzer Zeit hielten wir vor dem grauen Haus, das mich beherbergen sollte. Ein graues Haus in einer grauen Straße, so schien es mir damals. Später vergaß ich, dass es so hässlich war. Ich liebte es einfach, und noch heute sehe ich im Traum seine Zimmer.
Der Kutscher kratzte sich wieder mit dem Peitschenstiel am Kopf. Ich sah jetzt, dass es überhaupt nichts bedeutete. Ich trat noch einmal zu dem Schimmel. Ich hätte ihm gern ein Stück Zucker gegeben, wenn ich nur eines gehabt hätte.
Er wandte den Kopf und sah mich an. Im Bernsteingelb seiner Augen war etwas bezauberndes. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Es war, als wäre er nur eben dagewesen, um mich willkommen zu heißen.