Die Geister der Moldau — Kapitel 1 Ankunft

Das Stu­den­ten­heim, in das ich mich ein­ge­mie­tet hat­te, ver­gab Ein­zel­zim­mer nur an höhe­re Semes­ter, die für ihre Arbeit Ruhe brauch­ten. Ich wuss­te also, dass ich mich mit einer Stu­ben­ge­nos­sin abfin­den muss­te. Aber mein Wunsch, sie möge noch nicht da sein, erfüll­te sich. Das Zim­mer war noch kahl und unbe­wohnt. Da war nicht viel mehr als das Nötigs­te für zwei Men­schen unter einer kalk­wei­ßen Lam­pen­ku­gel von Milch­glas. Mit müden Hän­den bezog ich mein Bett und rich­te­te mich in einem der bei­den Schrän­ke ein. Jetzt, da ich am Ziel war, wünsch­te ich mich plötz­lich nach Hau­se zurück. Die Frem­de schien mir düs­ter, jetzt, da sich die Abend­schat­ten über Stadt und Stra­ße senk­ten. Im Ein­schla­fen hör­te ich aus einem nahen Fens­ter jen­seits der Stra­ße eine Gei­ge spie­len. Das Herz der Stadt schlug in der Nacht lau­ter als bei Tage. Zum ers­ten Mal hör­te ich es schlagen.

Prager Burg

Pra­ger Burg zur Zeit der Hand­lung — Quel­le: Pan­o­r­amio, Fotos von dudeyberlin

Mit­ten in der Nacht wach­te ich auf. Die Milch­glas­ku­gel an der Decke brann­te. Das Zim­mer war sehr weiß und sehr hoch bei Licht. Ich sah hel­les Haar und ein Gesicht, auf das ein Schat­ten fiel. Eine Stim­me ent­schul­dig­te sich und woll­te wei­ter­spre­chen. Aber ich konn­te aus mei­nem Traum nicht fort. Bald danach wur­de es dunkel.

Müde und zer­schla­gen erwach­te ich am andern Mor­gen. Unru­he war im Hau­se gewe­sen die gan­ze Nacht, ein Kom­men und Gehen im Flur und auf den Trep­pen, Sin­gen hin­ter der Wand und Türen­schla­gen näher und fer­ner. Als es Mor­gen wur­de, kamen die Geräu­sche von der Stra­ße her­auf durch das offen­ste­hen­de Fenster.

Milch­wa­gen pol­ter­ten und die Eimer der Müll­ab­fuhr, Rad­fah­rer klin­gel­ten und Stim­men rie­fen frem­de Wor­te die Stra­ße ent­lang. Die Luft, die ins Fens­ter weh­te, war beklem­mend und fast atem­rau­bend, gewebt aus tau­send Gerü­chen, wie man sie in gro­ßen Städ­ten fin­det. Aber da war über allem noch ein uner­klär­li­cher Ober­ton, ähn­lich dem Ton der Gei­ge vom Abend zuvor. Trau­er — Sehn­sucht, Hoffnung.

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