Die Geister der Moldau — Kapitel 1 Ankunft

Ich nahm Wasch­zeug und Bade­man­tel aus dem Schrank und schlich mich lei­se aus dem Zim­mer, hin­über in den Wasch­raum. Das ärm­li­che Gelass, in das ich ein­trat, war eng und fens­ter­los, von einer hoch oben schwe­ben­den Glüh­bir­ne trü­be beleuch­tet. Ich erschrak vor einem ent­blöß­tem Rücken, den ich mit einem schüch­ter­nen „Guten Mor­gen” begrüßte.

Der Kopf über dem Rücken, auf dem kas­ta­ni­en­far­be­nes Haar zu einem locki­gen Berg zusam­men­ge­steckt war, wand­te sich mir zu. Aus schräg­ge­stell­ten Augen traf mich ein spä­hen­der, unan­ge­neh­mer Blick. Die Lip­pen waren wie mit einem Stift gezeich­net. Sie erwi­der­te mei­nen Gruß. Unmög­lich konn­ten sie so früh schon geschminkt sein, und doch sah es so aus.

Nach einer Wei­le erkun­dig­te ich mich über das Plät­schern des Was­sers hin­weg nach Poli­zei­re­vier und Stu­den­ten­werk. Ich wur­de belehrt, dass und wo ich mir nach der Anmel­dung zunächst eine Stra­ßen­bahn­kar­te beschaf­fen müs­se, bil­lig, für alle Lini­en. „Ich muss auch nach­her hin. Sie kön­nen mit­kom­men.” Der Ton der Stim­me war gön­ner­haft und gefiel mir nicht, aber ich war froh, irgend­wie ein­ge­führt zu sein. Die Fremd­heit wich um einen Schritt zurück. Siche­rer gewor­den, ging ich wie­der in mein Zimmer.

Die Baro­nin saß im bunt­sei­de­nen Mor­gen­man­tel mit einem Mus­ter in krei­schen­den Far­ben auf dem Bett­rand. Sie mus­ter­te mich, als ich ein­trat. Alles in ihrem Gesicht war schmal und undeut­lich. Selbst die Pupil­len, von kal­tem Was­ser­blau, gin­gen unge­nau ins Wei­ße der Augen über, oder jeden­falls schien es so. Ihre Lip­pen, blass wie Haut und Haar, waren leicht geöff­net, als loh­ne es nicht, sie zu schlie­ßen. Wenig Leben war in dem Gesicht.

Da sie kei­ne Mie­ne mach­te auf­zu­ste­hen, ging ich auf sie zu und gab ihr die Hand.

Ich hei­ße Rich­ter”, sag­te ich. „Fran­zis­ka Rich­ter”. Ihre Hand war sehr leicht.

Maria Jen­sen”, sag­te sie. „Nen­nen wir uns doch beim Vor­na­men. Es ist zu blöd, ‚Fräu­lein’ zu sagen, wenn man jeman­den jeden Mor­gen auf­ste­hen sieht”.

Obwohl ich gar nicht gefragt wor­den war, stimm­te ich zu, wäh­rend mich die zwei­te Über­ra­schung die­ses Mor­gens beschäf­tig­te. Was war mit der Baro­nin? „Ich dach­te nur — sind Sie nicht, ich mei­ne, sind Sie nicht aus Ver­se­hen ins fal­sche Zim­mer geraten?”

Ihr Gesicht ver­här­te­te sich ein wenig. „Es ist schon rich­tig. Ich bin Baro­nin Scharff-Habe­land, wenn Ihnen das lie­ber ist. Für die Leu­te zu Hau­se bin ich es noch.” Sie rück­te an dem brei­ten, unge­schick­ten Gold­rei­fen auf ihrem rech­ten Ring­fin­ger und biss die Zäh­ne zusam­men, um ihn über die klei­ne Wulst des unters­ten Fin­ger­glie­des zu schie­ben. Er ließ sich etwas bewe­gen, aber er wider­setz­te sich ihrem Ver­such, ihn abzustreifen.

Er geht nicht ab”, sag­te sie ärger­lich. „Ich wer­de mal hun­gern müssen.”

Viel­leicht ein Zei­chen”, sag­te ich, ohne zu über­le­gen und erschrak: wie geschmack­los, nach fünf Sät­zen gleich zu sagen, was man wirk­lich denkt. Sich hin­ein zu drän­gen in eine Sache, die nur zwei Men­schen angeht und kei­nen Frem­den. „Ent­schul­di­gen Sie bit­te”, setz­te ich dazu. „Es geht mich ja nichts an.”

Aber sie schien nichts dabei zu fin­den. Wäh­rend sie wei­ter an dem Ring dreh­te, sag­te sie etwas milder:

Man kann nicht mehr tun, als es ver­su­chen, immer wie­der und immer wie­der und immer wieder.”

Ich hat­te mich nun mal drauf ein­ge­las­sen, eine Beich­te zu hören. Mir war es recht, wenn es ihr recht war. Damals wuss­te ich noch nicht, dass es meist schon aus­reicht, zuzu­hö­ren. Ich mein­te, ich müss­te auch reden. Was soll­te ich sagen? Erfah­run­gen hat­te ich nicht. Von zuhau­se wuss­te ich nur, dass eine Ehe unan­tast­bar ist.

Viel­leicht genügt es nicht, wenn man es nur drei­mal ver­sucht”, sag­te ich unsicher.

Ach, neh­men Sie das nicht wört­lich”, sag­te sie weg­wer­fend und ging zu dem Kabi­nen­kof­fer, der noch halb zuge­klappt neben der Tür stand. „Was nützt es, eine Ehe zu füh­ren, wenn die Lie­be nicht da ist, die da sein müsste?”

Auch von der Lie­be wuss­te ich nur eini­ges aus Büchern. Ein paar jun­ge Leu­te, von denen ich man­che um kei­nen Preis und die andern nur unter Umstän­den hät­te küs­sen mögen. Getan hat­te ich es nie. Aber sicher war ich, dass mei­ne Eltern ein­an­der immer noch lieb­ten nach mehr als drei­ßig Jah­ren Ehe. Gab es eine Ehe ohne Lie­be, wie war das alles über­haupt? Ich wuss­te es nicht.

Sie hat­te aus dem Durch­ein­an­der des Kof­fers das Wasch­zeug gefun­den und wand­te sich wie­der zu mir. Ihr Gesicht schien mir jetzt weni­ger blass, ganz so, als keh­re mit der Erin­ne­rung auch Leben in ihre Adern zurück. „Es ist eine zu lan­ge Geschich­te, man kann sie jetzt nicht so schnell erzäh­len”, sag­te sie. „Aber — ich weiß nicht, war­um — ich möch­te, dass Sie mich nicht falsch ver­ste­hen. Viel­leicht — es hat mich nie jemand danach gefragt, wis­sen Sie, und ihm konn­te ich es nie so sagen. Er hät­te es nicht ver­stan­den.” Sie schüt­tel­te den Kopf. „Es war so furcht­bar. Und dann bin ich ein­fach weggegangen.”

Sie fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar, das lei­se knis­ter­te und sich in einer leich­ten, silb­ri­gen Wol­ke hoch­hob, wo sie es kämmte.

Wol­len Sie sagen, dass er gar nichts weiß?” frag­te ich und sah etwas erschro­cken dem gespens­ti­schen Wogen des wei­ßen Haa­res zu.

Natür­lich weiß er”, sag­te sie unge­dul­dig. „Wir haben ja oft genug davon gespro­chen. Er weiß, dass ich fort woll­te und nicht wie­der­kom­me. Aber ihm konn­te ich ein­fach nicht sagen, war­um. Er weiß es nicht. Er denkt, es ist ein ande­rer Mann.”

Und es ist keiner?“

Sie schüt­tel­te den Kopf. Es nahm sich drol­lig aus, denn ihr Haar stand immer noch wie eine Wol­ke um ihr schma­les Gesicht, das jetzt anfing zu lächeln.

Kom­men Sie von einer Aus­kunf­tei?” frag­te sie belustigt.

Nein, nein”, erwi­der­te ich und lach­te auch. „Ich bin bloß Jour­na­lis­tin. In den zwei Jah­ren seit mei­nem Abitur habe ich für die Zei­tung in unse­rer Stadt geschrieben.”

Sie sehen nicht aus wie eine Jour­na­lis­tin”, mein­te Maria lächelnd. Da ich sie spä­ter so nann­te, will ich sie auch jetzt schon so nen­nen, obwohl mir ihr Vor­na­me lan­ge nicht über die Lip­pen woll­te. „Aller­dings sieht im Bade­man­tel kaum jemand so aus, als ob er einen ehren­haf­ten Beruf hät­te. Was schrei­ben Sie denn?”

Mein Vater sag­te mal: von Blu­men und Schmet­ter­lin­gen. Das stimmt so ungefähr.”

Eine klei­ne stei­le Fal­te stand auf ihrer Stirn. „Kann man das heu­te noch?”

War­um nicht?” Ich ver­stand ihre Fra­ge nicht.

Und Ihre Sachen wer­den gedruckt?”

Ich nick­te beschei­den aber nicht ganz ohne Stolz. „War­um soll man das nicht kön­nen?” forsch­te ich noch ein­mal. „Sehen Sie, das geht ganz ein­fach so: mei­ne Redak­ti­on sagt mir: es wird Früh­ling. Schrei­ben Sie was über die Son­ne. Oder: es ist Weih­nach­ten. Schrei­ben Sie was von Weih­nach­ten. Oder gehen Sie in die Aus­stel­lung für Gebrauchs­ke­ra­mik. Oder in den Zir­kus. Oder zum Sport­fest. Und dann schrei­be ich. War­um soll das nicht gehen?”

Sie kram­te jetzt wie­der in ihrem Kof­fer und nick­te vor sich hin. „Ja, so geht es wohl auch. Sie haben ganz Recht. War­um soll es nicht gehen?”

Aber was ist denn nur? War­um erklä­ren Sie es nicht?”

Es ist schon gut”, sag­te sie in den Kof­fer hin­ein. „Ver­ges­sen Sie’s! Wis­sen Sie, wo der Wasch­raum ist?”

Ich stand auf, um ihn ihr zu zei­gen, weil man die rich­ti­ge Tür leicht ver­feh­len konn­te. Dicht neben ihr ging ich über den Flur und sah im Licht der Trep­pen­fens­ter, dass ihr Gesicht jetzt abge­spannt und müde war.

War­um haben Sie so gefragt?” dräng­te ich noch ein­mal. „War­um wol­len Sie es mir nicht sagen?”

Sie schüt­tel­te den Kopf und schwieg.

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