Im ersten Büfett fanden wir nichts, das uns gefiel. Man konnte dann ohne irgendwelche Peinlichkeit wieder gehen und den Bon leer, wie man ihm am Eingang bekommen hatte, am Ausgang wieder abgeben. Im zweiten Büfett fanden wir, was wir suchten. Auch eine Suppe genehmigten wir uns und später einen Nachtisch.
Auf solche Weise angenehm gesättigt, bummelten wir über den Markt, der hier fast die ganze Breite des Platzes einnahm: bunter ländlicher Flecken am Rande der Großstadtstraße, wo die Bäuerinnen mit schwarzem Kopftuch und steif gefälteltem schwarzen Rock ihre Ware feilhielten. Draußen im Reich hatten die Schaufenster sich längst geleert und die Märkte waren zusammengeschrumpft. Auch hier gab es die Stände mit Mastgänsen nicht mehr, von denen manche noch sehnsüchtig erzählten. Die goldgelbe Butter im Fass sah man nur selten, die Vorräte an Lebensmitteln überhaupt waren mager geworden. Aber da, wo etwas fehlte, hatte man den Stand auf andere Weise wieder herausstaffiert mit Dingen, die zu kaufen jedem erlaubt war ohne amtliche Genehmigung.
Da gab es alles, was kunstfertige Hände aus Holz schnitzen, allerlei hölzernes Spielzeug, Wetterhäuschen und Puppenköpfe fürs Kasperletheater, Quirle, Rührlöffel und Holzpantinen. Kinder musterten sachgemäß das angebotene Spielzeug mit den Gesichtern von Erwachsenen, am Stiel vor sich hertragend eine große Wolke von süßem, roten Schaum, an dem sie genießerisch nagten.
Wir taten es ihnen nach. Natürlich schmeckte es nach nichts. Es war Ersatz, aber was für ein prächtiger, lockender wehender Ersatz für solideres Naschwerk.
Die Schaumwolke vor uns hertragend, schlenderten wir vorbei an den Buden voller Glaskugeln, Perlengehänge und flimmerndem Tand, an den Ständen voller Blumen, mit Tannenreisig ausgeschmückt, die wie bunte Tupfen hier und da eingestreut waren.
Auf der Straße drüben — Maria stieß mich an und deutete mit dem Stiel ihrer Schaumflocke hinüber — fuhr eben eine Straßenbahn vorbei, geschmückt mit Tannengrün und langen Ketten weißer Papierblumen. Man konnte vorn das Hochzeitspaar sitzen sehen, die Braut im weißen Staat und rosig behaucht von Glück, und hinter ihnen und um sie die festlich gekleidete Verwandtschaft, Onkels und Tanten und das Elternpaar vom Lande, alle städtisch angetan, dem hohen Fest zuliebe. Über ihren Gesprächen vergaßen sie nicht, die Blicke nach draußen schweifen zu lassen, ob die feierlichen Anstalten auch die gebührliche Aufmerksamkeit fänden. Die fanden sie. Die Kinder blieben stehen mit offenem Mund und vergaßen ihren Schaum am Stiel. Auch die Erwachsenen blieben stehen und lächelten den Fahrenden zu, und eine alte Frau schlug das Kreuz wie einen Segen für das junge Paar.
Über Marias Gesicht ging ein Schatten.
„Ich möchte wissen, warum man bei Hochzeiten immer so lustig ist”, sagte sie düster. „Wie können die alle wissen, was die Frau erwartet?”
„Wie können sie wissen, was den Mann erwartet?” fragte ich. „Schließlich riskieren sie ja beide etwas.”
„Ich glaube, von Männern kommt mehr Unglück als von Frauen”, sagte sie bitter. „Die Frauen sind nur still und tragen es halt in Gottes Namen. Aber das ist nichts für mich.”
„Ich habe nun mal das Bild Ihres Mannes gesehen”, sagte ich zögernd. „Ich finde, er sieht gar nicht so aus, als könnte er eine Frau so unglücklich machen.”
„Oh, er ist edel”, sagte sie mit zornigem Nachdruck. „Er ist der edelste Mensch, den ich je gekannt habe. Deshalb habe ich ihn ja geheiratet. Aber auch der edelste Mensch kann unerträglich werden, wenn ihm immer andere Dinge wichtiger sind als seine Frau, wenn er an ihnen hängt wie an seinem Leben, während die Frau nur nebenher zu laufen hat wie ein gefälliges, aber im Grunde doch lästiges Anhängsel.”
„Aus welchem Grund hat er Sie dann geheiratet?”
Sie zuckte die Achseln. „Er sagt, er liebt mich. Vielleicht tut er das auch — auf seine Weise. Einmal hatte ich selber das Gefühl. Ich war sehr krank, wir waren schon verheiratet, und ich bekam plötzlich Diphtherie, lächerlich, eine Kinderkrankheit als verheiratete Frau. Aber es war scheußlich, ich war oft nahe am Ersticken. Die Spritzen vertrug ich nicht, das Herz machte nicht mehr richtig mit. Damals ging er nicht von meinem Bett. Plötzlich ganz nahe am Tode merkte ich, dass er mich wirklich liebte. Das hat mich wohl gesund gemacht. Aber wozu? Warum zeigen Menschen eigentlich immer nur dann ihre Liebe, wenn sie etwas verlieren sollen?”
Ich wusste keine Antwort. Wir waren zu der Stelle gekommen, wo der Markt zum Jahrmarkt wurde. Den Karussells zuliebe war hier die strenge Ordnung der Reihen aufgelöst. Eine Schießbude stellte sich uns quer in den Weg.
Noch ehe ich begriff, was geschah, war Maria darauf zugegangen, hatte ein paar Kronenscheine auf den Tisch gelegt und nach dem Gewehr gegriffen, das die rotbackige Budenbesitzerin ihr mit ungläubigem Lächeln reichte. Ich trat neben sie. Nichts hatte ich jetzt weniger erwartet als das. Scheu sah ich ihr von der Seite her zu. Sie hatte den Kopf zurückgelehnt. Das weißblonde Haar fiel ihr tief in den Nacken. Ihr Körper hatte sich gestrafft, die Konturen des Gesichts, die sonst immer nur verwischt schienen, waren gespannt und klar.
Da stand sie, das Gewehr an der Wange, eine junge Göttin der Jagd, schön. wie ich sie nie vorher gesehen hatte, aber schrecklich zugleich.
Da knallte der Schuss. Man sah den Bolzen nicht, er steckte in der schwarzen Mitte. Die Frau zog ihn heraus, in den Mienen stand Respekt. Sie klappte das Schloss auf, setzte den nächsten Bolzen ein. Kinder und Erwachsene blieben hinter uns stehen. Maria hob das Gewehr an die Wange, ohne sich umzusehen, ohne ein Wort. Sie zielte, schoss ohne zu zögern und traf wieder. Auch der dritte Bolzen saß in dem schwarzen Feld in der Mitte. Jetzt legte sie das Gewehr hin. Eine Locke war ihr ins Gesicht gefallen, sie strich sie zurück. Ihr Gesicht war gerötet, angestrengt und erregt.
Die Leute klatschten. Sie lächelte halb verlegen. Die Frau gab ihr einen kleinen Bären, nicht grösser als eine Hand. An den Preisen musste offenbar gespart werden, wenn das Geschäft sich auszahlen sollte. Aber er war niedlich, hatte helles, seidenweiches Fell und freundliche Knopfaugen. Wir traten aus dem Kreis, der sich gebildet hatte und gingen weiter. Sie gab mir den Bären.
„Da, nehmen Sie ihn — als Andenken.”
„Warum behalten Sie ihn nicht — als Andenken? Ich hätte nie geglaubt, dass Sie überhaupt schießen können und gar so!”
„Das hat er mich auch gelehrt, da war er gründlich. Dabei mochte ich es gar nicht, zu schießen, er wusste das sogar. Aber so kommt es dann. Ich hasse es zu schießen, und trotzdem bin ich stolz, dass ich dreimal getroffen habe. Natürlich bin ich stolz. Aber gleichzeitig ist es mir zuwider, ich brauche keine Erinnerung daran. Nehmen Sie ihn nur!”
„Er ist so hübsch! ” Ich streichelte über das feine Fell.
„Es ist im Großen nicht anders”, fuhr sie fort, und ich merkte, wie sie schon wieder zurückwich in den Schatten. „Sie wollen das Gute, aber die Mittel sind böse, müssen böse sein. Es ist nett, dass ich einen Teddybären für Sie geschossen habe” — sie lächelte, als sie merkte, was sie gesagt hatte, „wenigstens finde ich es ganz nett. Aber ich hasse Waffen. Warum kann man die Welt nicht lassen, wie sie ist? Oder sie wenigstens behutsam verändern? Wie das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst: das Harte unterliegt.”
„Das ist gut, — woher haben Sie das?” Sie sah mich von der Seite an, halb misstrauisch, halb, als erkenne sie mich erst jetzt. Aber meine Frage war ganz naiv, eine Frage nach schönen Worten, nicht nach dem Sinn.
„Ich habe es kürzlich mal im Radio gehört, irgendwo, keine Ahnung”, erwiderte sie gleichgültig und bog unvermittelt zu den Luftschaukeln ab. Sie zahlte und war eingestiegen, bevor ich hinterherkam. Nach einigem Zögern entschloss ich mich lieber für das Kettenkarussell, das nebenan seine Kreise schwang.
Als ich wieder ausstieg, stand Maria an einer Bude, vor der ein Ausrufer den Zuschauern offenbar unerhörte Wunder verhieß, wenn sie sich entschließen könnten, fünf Kronen für den Eintritt in seine Bude zu erlegen. Neben ihm stand ein unscheinbarer, kleiner Mann, zwergenhaft, eine Puppe offenbar.
„Sehen Sie sich das an”, sagte Maria. „Es ist wirklich erstaunlich. Ich stehe jetzt schon eine Weile hier. Der Mann rührt sich nicht.”
Ich betrachtete die Figur mit dem knolligen Gesicht, wie man es manchmal an Wachspuppen findet, die drollig wirken sollen: knollige Nase, knollige Wangen, knolliges Kinn, aber dabei nicht die frischen Farben einer Puppe, sondern abgetragene lederartige Haut, sehr lebensecht gemacht. Die Puppe trug eine Livree mit Litzen und Goldknöpfen, sie war abgewetzt und hatte ihren Glanz verloren. Viele Jahrmärkte mochten ihr mit ihrer Sonne und mit ihrem Regen die Farbe ausgewaschen haben. An Armen und Beinen der Figur waren Drähte befestigt, die von der Decke des Podiums herabhingen. Der Ausrufer mit einem Cowboyhut und Goldfransen an den Hosen deutete hin und wieder auf die Puppe, die keinerlei Miene machte, ihre Künste zu zeigen.
„Es ist kein Mann”, sagte ich. „Es ist eine Puppe. Wozu wären sonst die Drähte da?”
Maria zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht. Ich meinte vorhin, er hätte sich ein klein wenig bewegt. Aber vielleicht ist auch bloß jemand angestoßen. Ich kann mir auch nicht denken, dass ein Mensch so lange so still stehen kann.”
Einige der Zuschauer ließen sich locken, erklommen die Stufen zum Podium, zahlten und verschwanden hinter dem dunklen Vorhang. Sie würden drin eine ganze Weile zu warten haben, ehe sich der Raum gefüllt hatte. Es war nicht abzusehen, wie lange wir noch stehen müssten, um zu erfahren, ob es ein Mann oder eine Puppe war, und es war nicht einmal sicher, ob wir es dann erfahren würden.
Jetzt deutete der Ausrufer wieder auf seinen Lockvogel. Der hob jetzt einen Arm, langsam, ruckhaft, mechanisch. Es war die Bewegung einer Puppe. Er senkte ihn wieder, hob den Anderen.
Die Bewegung war nicht menschlich, ganz ohne Zweifel. Es war eine Puppe. Jetzt hob der Mann sie an den Ellbogen hoch und setzte sie ein Stück zur Seite. Sie stand wie aus Holz.
„Sie sehen doch, es ist eine Puppe” sagte ich, „Wir können hier noch ewig stehen. Kommen Sie, wir gehen!”
Wir hatten seitwärts vor der Bude gestanden, jetzt gingen wir an ihr vorbei, immer noch die Augen auf die Puppe gerichtet. Plötzlich traf mich etwas wie ein Donnerschlag, durch die Augen brach es herein und raste durch alle Glieder. Ich schloss die Augen, aber der Spuk war noch nicht vorbei. Ich war stehengeblieben, mir war, als könnte ich nicht von der Stelle. Und es war wie ein unerträglicher Zwang, die Augen wieder zu öffnen und noch einmal in derselben Richtung zu sehen. Aber ich konnte es nicht und wollte es nicht und würde es nicht tun. So stand ich ein paar Augenblicke lang da, die Augen fest zugepresst, wie an den Boden geschmiedet, und wusste nicht, wie ich von hier fortkommen sollte.
„Was ist Ihnen?” fragte Maria und nahm mich am Arm. Ihre Stimme war sanft, ein Gegenzauber schien darin zu sein. Ich konnte wieder gehen und meine Augen in eine andere Richtung öffnen. Aber in meinen Knien war eine Schwäche, die ich kaum überwinden konnte.
„Ist Ihnen nicht gut?” fragte Maria noch einmal. „Wollen wir lieber nach Hause gehen?”
„Es ist ein Mensch!” sagte ich statt einer Antwort.
„Ich weiß”, erwiderte sie. „An den Augen konnte man es sehen.“
Sie hatte auch die Augen gesehen! Aber in ihnen hatte sie nicht gesehen, was ich gesehen hatte. Diese Erkenntnis berührte mich fast noch grausiger als der Blick in die Augen dieser Marionette. Wieder musste ich an Undine denken und wie sie mit Kühleborn, dem Wassergeist, Zwiesprache hält zum Schrecken der Menschen.
Ich wagte nicht, zu sagen, was ich gesehen hatte. Aber in mir bewegte ich es hin und her, was da geschehen sein konnte. Es gab nur eine Erklärung dafür: dieser Mann stand nicht so still, weil er sich beherrschen konnte. Eine solche Beherrschung durch so lange Zeit war fast unmöglich, hätte eine übermenschliche Kraft gekostet. Er stand darum so still, weil er sich selber ganz aus dem Körper zurückgenommen hatte, ihn allein gelassen hatte wie ein leeres Gefäß. Alle Kräfte aber, die wir Anderen ständig an bewusste oder unbewusste, sinnvolle oder sinnlose Bewegung verschwenden, waren gesammelt in seinen Augen. Nur dort existierte er, und existierte so sehr, dass es mich getroffen hatte wie ein elektrischer Schlag.
Dieses fanatische Zurücknehmen aller Kräfte auf einen einzigen Punkt beschäftigte mich noch lange. Und noch lange dachte ich an den kleinen geschundenen, herumgestoßenen Mann auf dem Jahrmarkt, der mich dieses Geheimnis gelehrt hatte, wahrscheinlich ohne mich wirklich zu bemerken.