Die Geister der Moldau — Kapitel 3 Die Marionette

Bei einem Bum­mel am Mold­au­kai in der Nähe ihrer Insti­tu­te war Maria an einer Damp­fer­an­le­ge­stel­le vor­bei­ge­kom­men und hat­te sich die Abfahrt­zei­ten notiert. Der Sonn­tag war son­nig. So mein­te sie, wir soll­ten eine Fahrt nach Stiech­o­witz machen, sie habe von den St.-Johannis-Stromschnellen gehört, die soll­ten sehr ein­drucks­voll sein, und über­haupt bekä­me man auf die­se Wei­se erst mal ein Stück des Mol­dau­lau­fes zu Gesicht und könn­te sich Punk­te für spä­te­re Aus­flü­ge vormerken.

Ich war froh, von mei­nem Blatt mit den Gedich­ten weg­zu­kom­men, fal­te­te es aber dann doch zusam­men und steck­te es ein, dazu Papier und Blei­stift, als ich sah, dass Maria einen Zei­chen­block mitnahm.

Es war ein wun­der­vol­ler Mor­gen, einer von denen, die frisch und wie neu blei­ben bis tief in den Vor­mit­tag hin­ein. Maria wuss­te den Weg. Sanft neig­te er sich abwärts, dem Was­ser zu, ein brei­tes Gerie­sel fla­cher Stu­fen zwi­schen Häu­sern und Gär­ten. Stär­ker weh­te jetzt der Duft, der manch­mal auch bis in unse­re Stra­ße sich ver­irr­te. Hier blüh­te alles, rosig und wie Schnee. Die fei­er­li­chen Kel­che der Magno­li­en waren über­weit geöff­net und neig­ten sich zum Fall. Schon war der Rasen von ihren Blät­tern bedeckt. Aber auch so, ganz nutz­los gewor­den, waren sie noch schön, ein sei­di­ges Feld, das auf­glänz­te unter den letz­ten Trop­fen von Tau, wo die Son­ne durch die Zwei­ge fand.

Man ahn­te den Fluss schon, ehe man ihn sah. Es roch nach dem Teer von Boo­ten und Lan­de­ste­gen, und obwohl man hier das Brau­sen des Was­sers nicht hör­te wie wei­ter stromab am Wehr, schien der Strom doch mit die­sem Duft von Teer und mit sei­ner gehei­men Bewe­gung uns unwi­der­steh­lich zu sich hinabzuziehen.

Wir lie­fen die Stu­fen hin­un­ter, bogen um aller­lei Ecken und kamen end­lich zum Was­ser. Am Ufer­ge­län­der ent­lang schlen­der­te ein Mann, die Hän­de in den Taschen sei­nes Regen­man­tels. Er war nicht der ein­zi­ge Mensch auf der Stra­ße. Hier und da kamen ande­re allein oder in klei­nen Grup­pen, die offen­bar eben­so zur Damp­fer­an­le­ge­stel­le streb­ten wie wir. Trotz­dem zog er die Bli­cke auf sich, war­um, das hät­te man kaum sagen kön­nen. Er mach­te den Ein­druck eines Müßig­gän­gers, nicht gera­de ele­gant, aber auch nicht ärm­lich und abgerissen.

Sein Gang war es wahr­schein­lich, der ihn schon aus der Ent­fer­nung von Ande­ren unter­schied. Er ging nicht gebückt, aber sein gan­zer Kör­per neig­te sich im Gehen nach vorn, so dass man nicht so sehr den Ein­druck hat­te, als gin­ge er, son­dern als lie­ße er bei jedem Schrit­te sich nach vor­ne fal­len. Aus die­ser son­der­ba­ren Kör­per­hal­tung gewan­nen sei­ne Schrit­te etwas Schlei­chen­des, Laut­lo­ses, Mühe­lo­ses, als wür­de er gezogen.

Die­se Art zu gehen leuch­te­te mir ein; ich ver­such­te sie nach­zu­ah­men, wäh­rend wir über die Stra­ße gin­gen, bis sich das Schwarz sei­ner sehr gro­ßen Son­nen­bril­le sozu­sa­gen dro­hend auf uns rich­te­te. Da ließ ich es sein. Im Näher­kom­men sahen wir, dass die Haut sei­nes Gesichts von Pocken­nar­ben zer­ris­sen war. Ein zer­stör­tes Gesicht war es, dem offen­bar nur die schar­fe Schwär­ze der Son­nen­bril­le Zusam­men­halt und Fes­tig­keit gab.

Wir blie­ben am Gelän­der ste­hen. Er ging an uns vor­bei und ver­hielt sei­nen schlei­chen­den Schritt, unschlüs­sig zögernd am Pla­kat der Damp­fer­an­le­ge­stel­le. Es sah so aus, als war­te er dar­auf, wie wir uns ent­schei­den wür­den. Mich schau­der­te bei dem Gedan­ken, einen Mit­fah­rer von so teuf­li­schem Äuße­ren an Bord zu wis­sen — das Mit­leid, das wir sonst Ent­stell­ten so leicht ent­ge­gen­brin­gen, kam mir hier nicht.

Aber der uner­wünsch­te Pas­sa­gier woll­te sich nicht ent­fer­nen, er schlen­der­te jetzt vor der Trep­pe zum Kai auf und ab und blick­te hin und wie­der die Stra­ße ent­lang, als war­te er auf jeman­den oder auch auf uns. Die Sire­ne des Damp­fers schrill­te jetzt, wir muss­ten an Bord, wenn wir unse­ren Rei­se­plan nicht auf­ge­ben woll­ten. Und es war auch, wie ich gedacht hat­te: kaum hat­ten wir die Kar­ten gelöst, da schien auch er ent­schlos­sen und betrat kurz nach uns das Schiff, das bald dar­auf zu beben anfing von der Bewe­gung der Moto­ren. Die Tros­sen wur­den gelöst, und wir fuhren.

Es schien zuerst nicht, als such­te er unse­re Nähe. Er ließ sich am Heck des Schif­fes nie­der und zün­de­te sich eine Ziga­ret­te an, wie man durch die ver­glas­ten Gang­tü­ren sehen konn­te. Wir blie­ben vorn am Bug.

Kühl weh­te es vom Was­ser hoch und übers Was­ser her. Im Mor­gen­dunst blie­ben Häu­ser und Tür­me der Stadt zurück. Wäh­rend zur Rech­ten Smi­chow vor­beiglitt, moder­ner Abschaum und düs­te­rer Bezirk der Armut, Schutt­hau­fen, Gleis­an­la­gen und ver­ruß­tes Mau­er­werk, tauch­te zur Lin­ken hoch über den Häu­sern der Wisch­eh­rad auf, Erin­ne­rung an die sagen­haf­ten Anfän­ge der Stadt. Ver­einsamt rag­te er da in alter, neu­er Wür­de, zum Sonn­tags­spa­zier­gang für die Klein­bür­ger der Vor­stadt gewor­den, ohne Zusam­men­hang mit dem, was die Stadt bedeu­te­te, aus­ge­schie­den aus ihrem Bild, ein ver­arm­ter, ver­ges­se­ner Herr­scher, der aus Gna­de noch seit­ab resi­die­ren darf. Und doch hat­te auch er hier drau­ßen sei­ne Rol­le, die näm­lich: die Stadt nicht enden zu las­sen drin, wo der Zau­ber des Schö­nen über­geht in die Annehm­lich­kei­ten des Moder­nen, ihren Geist auch hier drau­ßen leben­dig zu hal­ten, wo sie fast schon endet und sich ver­liert ins flach-hüge­li­ge böh­mi­sche Land.

Wie die Stadt weit über sich sel­ber hin­aus­reich­te, wie ihr Atem mol­dau­auf­wärts weh­te bis hin­ein in die Ber­ge und Wäl­der! Oder war es das Was­ser, das alles Schö­ne magne­tisch zu sich her­zog, es übertau­te mit sei­nen Dunst, ihm schmei­chelnd sein Spie­gel­bild vorhielt?

Es spie­gel­te die alte, absei­ti­ge Burg und die blü­hen­den Bäu­me am Ufer, Es spie­gel­te die Fel­sen von Bar­ran­dow, durch die es sich in alten Zei­ten den Weg gebro­chen hat­te hin­un­ter in die Ebe­ne, die­se bläu­lich duns­ti­gen stei­len Abstür­ze, die sei­ne Gewalt noch bezeu­gen konn­ten, obwohl es jetzt still floß und fast unsicht­bar. Es spie­gel­te die Nepo­muk-Kir­che, die über Kuchel­bad anmu­tig und zier­lich aus dem Berg­wald auf­ragt. (Ich schlug das alles in einem alten Rei­se­füh­rer nach, den ich vor­sorg­lich ein­ge­steckt hat­te, um zu wis­sen, was wir sehen wür­den.) Es spie­gel­te die Schlös­ser von Komo­ran und Königsaal.

Maria, die am Anfang der Fahrt frös­telnd den Kra­gen ihrer Jacke zusam­men­ge­zo­gen hat­te, lehn­te sich bald fröh­lich über die Reling, sah leb­haft hin­über und hin­auf zu allem, was ich ihr im Tone des Frem­den­füh­rers demons­trier­te und wink­te gar — ich staun­te — den Weni­gen zu, die es jetzt schon mit dem nassen

Ele­ment auf­neh­men woll­ten und ihre roten, blau­en, und grü­nen Kanus an Sei­len mol­dau­auf­wärts zogen, um dann im Lauf des Tages sich behag­lich wie­der von der Strö­mung tal­wärts trei­ben zu lassen.

Wie am ers­ten Tage schien es mir, als sei das Was­ser Mari­as eigent­li­ches Ele­ment. Hier war sie ganz frei, als wis­se sie mäch­ti­ge Geis­ter zu ihrem Schutz in der Nähe. Sie atme­te tie­fer, mehr und mehr schien ihr Haar zu glän­zen — aber das war natür­lich eine Täu­schung, nur, dass die Son­ne hel­ler und hel­ler durch den Mor­gen­dunst brach. Die Schat­ten blie­ben zurück.

Und doch, dach­te ich, wenn sie dem Ver­schwim­men­den, Glei­ten­den, Unge­nau­en so ver­wandt ist — wie ver­ständ­lich ist es dann, dass sie sich gegen har­te, viel­leicht lebens­be­dro­hen­de Ent­schei­dun­gen sträubt, dass sie ein Feind sein muss von Auf­ruhr und Rebel­li­on. Denn ähn­li­ches hat­te ich doch aus ihren Wor­ten am Tage vor­her ver­stan­den, wenn mir auch die Ein­zel­hei­ten, die Hin­ter­grün­de und Ursa­chen unklar blie­ben. Ich dach­te an ihr Wort vom wei­chen Was­ser, das den Stein besiegt. Es war mir schön in Erin­ne­rung, ich hät­te es jetzt gern wie­der­holt. Einen Augen­blick lang dach­te ich dar­an, sie zu fra­gen. Glück­li­cher­wei­se bemerk­te ich sel­ber, wie grau­sam und bos­haft es gewe­sen wäre, sie wie­der zurück­zu­rei­ßen in ihre alten Gedan­ken. Hier war alles neu. Nichts erin­ner­te sie, nichts schreck­te sie. End­lich konn­te sie froh sein.

Wei­ter und wei­ter ent­fern­ten sich die blü­hen­den Ufer zu bei­den Sei­ten vom Schiff, bis es end­lich durch den rie­si­gen Spie­gel einer Tal­sper­re sei­ne sil­ber­ne Schnur zog und auf ein Städt­chen zuhielt, das am Fuß kahl­ge­schla­ge­ner Hän­ge sich aus­brei­te­te: Stiech­o­witz, das Ziel unse­rer Fahrt.

Ich glau­be, wir hat­ten bei­de den Pocken­nar­bi­gen ganz ver­ges­sen, als wir auf hal­ber Höhe des Han­ges anhiel­ten und ihn plötz­lich dicht hin­ter uns sahen. Schlei­chen­den Gan­ges näher­te er sich, ohne son­der­li­che Eile, als lie­ge ihm durch­aus nichts dar­an, uns ein­zu­ho­len. Aber er war schon so nahe her­an­ge­kom­men, dass wir ihm nicht mehr ent­kom­men konn­ten, ohne uns lächer­lich zu machen.

Ich hät­te eine Bit­te”, sag­te er mit dunk­ler, nicht unan­ge­neh­mer Stim­me. (Ich ver­merk­te, dass er dabei die Hän­de nicht aus den Taschen nahm). „Ich hat­te auf Gesell­schaft gehofft und bin allein gelas­sen wor­den, Hät­ten Sie wohl die Freund­lich­keit, mich unter Ihre Fit­ti­che zu neh­men? Da Sie zu zweit sind, ist es ja kein Risi­ko für Sie.” Dies letz­te klang etwas unangenehm.

Kei­ne von uns wun­der­te sich, dass er uns deutsch ansprach. Man sah es uns sicher an, dass wir Deut­sche waren. Viel­leicht hat­te er uns auch schon mit­ein­an­der spre­chen hören. Mich stör­te nur, dass ich sei­ner Aus­re­de nicht glau­ben konn­te. Er nahm Übri­gens auch jetzt nicht die Son­nen­bril­le ab, wie es viel­leicht höf­lich gewe­sen wäre. Sie saß wei­ter mit­ten in sei­nem blat­ter­nar­bi­gen Gesicht wie eine Mas­ke. Was moch­te er für Augen haben?

Wir zöger­ten bei­de mit der Antwort.

Mein Name ist Peter Frit­sche”, füg­te er hin­zu. „Ent­schul­di­gen Sie, dass ich mich nicht gleich vor­ge­stellt habe. Ich wür­de gern mei­nen Hut abneh­men, wenn ich einen auf­hät­te. lei­der” — er zuck­te dabei mit den Ach­seln, nahm aber die Hän­de nicht aus den schrä­gen Manteltaschen.

Mei­net­we­gen schlie­ßen Sie sich uns an”, sag­te Maria kühl, zu einem Zeit­punkt, wo unser Schwei­gen schon pein­lich gewor­den war. „Ich mag es eigent­lich nicht, wenn Unbe­kann­te mich ansprechen.”

Mir schien, als fär­be sieh sei­ne nar­bi­ge Haut etwas dunk­ler. Immer­hin wuss­te er eine Antwort.

Ich dach­te, in Stu­den­ten­krei­sen und auf Wan­der­we­gen ist so etwas eher erlaubt”, erwi­der­te er etwas klein­lau­ter als zu Anfang. „Ent­schul­di­gen Sie, ich will Sie mit mei­ner Gegen­wart nicht beläs­ti­gen, wenn sie Ihnen so unan­ge­nehm ist.”

Wie­der hat­te ich das Gefühl, er habe nichts weni­ger im Sinn, als wei­ter allein sei­nen Weg zu gehen.

Woher wis­sen Sie, dass wir stu­die­ren?” frag­te Maria auch wei­ter kühl, aber offen­bar kam ihr das Mit­leid, das bei mir immer noch auf sich war­ten ließ, und sie woll­te ihn nicht ein­fach weg­schi­cken, aber ihm auch nicht aus­drück­lich die Erlaub­nis geben, uns zu begleiten.

Ich habe Sie in der Uni­ver­si­tät gese­hen. Sie stu­die­ren Medi­zin, nicht wahr?” Schon wie­der woll­te es mir schei­nen, als lüge er, obwohl ich es ihm bei­lei­be nicht hät­te nach­wei­sen kön­nen. Im Gegen­teil, es war ganz unwahr­schein­lich, dass er aufs Gera­te­wohl gera­ten hat­te. Er muss­te es ja wis­sen, sonst konn­te er es kaum mit sol­cher Sicher­heit behaup­ten. Und doch — und doch -

Wir stie­gen inzwi­schen wei­ter berg­an, so ergab es sich ganz von selbst, dass er jetzt doch mit uns ging. Mari­as Wor­te schie­nen aller­dings mein Gefühl zu bestätigen.

Aber ich habe Sie nie gese­hen”, erwi­der­te sie.” Stu­die­ren Sie auch Medizin?”

Ich woll­te es tun. Aber dann habe ich beschlos­sen, lie­ber erst mal ein Semes­ter lang zu bum­meln. Prag ist gra­de die Stadt dazu, und ich kann es mir leis­ten.” Wie­der eine Lüge? Lang­sam fand ich mich sel­ber lächer­lich in mei­nem Miss­trau­en. War­um soll­te er uns das alles vor­lü­gen? Es konn­te doch eben­so gut wahr sein. Wenn er nur die Bril­le abneh­men wür­de! Aber er tat es nicht.

Wir gin­gen wei­ter mit­ein­an­der durch die Wäl­der, hin­auf zu den Strom­schnel­len. Er war kein unan­ge­neh­mer Beglei­ter, nicht auf­dring­lich, wie es am Anfang den Anschein gehabt hat­te. Als ich ihn zum ers­ten Male gese­hen hat­te, war es mir erschie­nen, als habe er sich mir völ­lig zu erken­nen gege­ben. Der Unbe­kann­te, der noch kein Wort zu mir gesagt hat­te, war mir ver­traut wie durch Jah­re hin­durch, faul, ver­lo­gen, arro­gant, und über dies alles hin­aus wahr­haft teuf­lisch, einer, der sich am Schick­sal rächen woll­te für die böse Gewalt, die sei­nem Gesicht ange­tan war.

Jetzt wur­de ich unsi­cher. Er sprach fast nur mit Maria, obwohl er der Höf­lich­keit wegen auch ein­mal an mich das Wort rich­te­te. In sei­nem Gespräch zeig­te er durch­aus auch ange­neh­me Züge. Von Arro­ganz war dar­in nichts zu fin­den, und zur Faul­heit bekann­te er sich sel­ber, mit ehr­li­cher Reue, so schien es, denn er frag­te Maria mit viel Inter­es­se nach allen Ein­zel­hei­ten ihres Studiums.

Ich fühl­te mich beru­higt über sei­nen Cha­rak­ter, obwohl ich das Gespräch der bei­den etwas zu leb­haft fand nach so kur­zer Bekannt­schaft. Maria muss­te ja für ihn ein jun­ges Mäd­chen sein, unge­bun­den, sie trug ja den Ring nicht mehr. Er schien ehr­lich ent­zückt von ihrer Schön­heit, und wer hät­te das auch nicht sein sol­len? Aber es gab kei­ne Kom­pli­men­te, kei­ne alber­ne Schmei­che­lei. Ich konn­te beru­higt sein, aber ich war es nicht.

Ich wünsch­te jetzt, ich hät­te allein berg­auf und berg­ab durch das feuch­te Grün die­ses Wal­des gehen kön­nen, der nir­gends zu enden schien und von fern­her durch­tönt war vom Rau­schen der Mol­dau. Ich ver­such­te, mei­ne Ohren dem Gespräch zu ver­schlies­sen und nur auf den Frie­den zu hören, der in der lei­sen Bewe­gung der Zwei­ge war. Ich atme­te tief den har­zi­gen Duft der Stäm­me, ich blieb zurück oder lief vor­aus, um die Freu­de wie­der­zu­fin­den, die vor­hin auf dem Schiff dage­we­sen und jetzt ver­lo­ren war.

Ich dach­te an Felix Erlach. Wäre er jetzt gekom­men, hät­te er gesagt, was der ande­re vor­hin gesagt hat­te, viel­leicht hät­te ich dann Maria ver­ges­sen kön­nen und all die­se Düs­ter­nis, die um sie her war. Ich dach­te an sein Gesicht, an sein Lächeln vor jener Tür, die er mir auf­hielt. Die Ver­su­chung war so groß, zu flüch­ten und zu ver­ges­sen. Und wäh­rend ich an sein Lächeln dach­te, lächel­te ich sel­ber wie zur Ant­wort. Fast war es schon gelun­gen, das Ver­ges­sen. Ich ging allein durch die­sen Wald, der so feucht und so grün war, so durch­tönt von Wind und Was­ser, und nir­gends ein Ende nahm.

In die­sem Augen­blick wand­te sich Maria um.

Was lachen Sie?” rief sie zurück, und es klang scharf, so wie ich sie nie hat­te spre­chen hören. „Sehen wir so komisch aus?”

Ich schüt­tel­te den Kopf.

Ich dach­te an etwas ganz ande­res”, rief ich zurück. Der Frie­den war zer­stört, ver­lo­ren. Ich war wie­der da, wo ich sein musste.

In einem Bau­ern­hof fan­den wir eine Gast­wirt­schaft, sicht­bar als Not­be­helf ein­ge­rich­tet. Es war wohl die gute Stu­be von einst, in die man uns, die Gäs­te, wies. Alles summ­te dar­in von Flie­gen, wir muss­ten ihnen die Fens­ter öff­nen. In der Mut­ter­got­tes-Ecke fla­cker­te unru­hig das rote Lämp­chen, Maria und ich wur­den aufs Sofa genö­tigt, Peter Frit­sche saß uns gegen­über, das Gesicht im Licht.

In die­ser Stu­be ereig­ne­te es sich, dass Peter Frit­sche sei­ne Son­nen­bril­le abnahm. Zögernd, bei­na­he ängst­lich sahen danach wir bei­de ihm ins Gesicht. Schon vor der Ent­stel­lung moch­te es in sei­nen Zügen grob gewe­sen sein, jetzt konn­te man es noch weni­ger schön nen­nen. Das Breit­flä­chi­ge von dem Rücken der kräf­ti­gen Nase bis zu den weit gestell­ten Backen­kno­chen war betont durch die Nar­ben, auch die Stirn war davon nicht ver­schont, die übri­gens hoch war und nicht übel geformt. Jetzt, da die Son­nen­bril­le fehl­te, gewann das kan­ti­ge Kinn an Ent­schlos­sen­heit. Aber ent­schie­den und bestimmt wur­de das Gesicht jetzt, wo sie sicht­bar waren, von den Augen.

So wie man staunt, wenn man vom Ran­de eines öden, stein­grau­en Fel­sen­kes­sels unten auf dem Grund ein Was­ser leuch­ten sieht, sei­dig blau oder in lich­tem Meer­grün oder in der Far­be von Ame­thyst, wie man sich dann stau­nend fragt, wie aus so farb­lo­sem Grun­de Was­ser von so wun­der­ba­rer Far­be ent­sprin­gen kann, so staun­te man über die Augen in der ver­wüs­te­ten Land­schaft die­ses Gesichts.

Frit­sche tat unrecht dar­an, die­se Augen zu maskieren.Ich fühl­te deut­lich, wie augen­blick­lich in Maria sich etwas änder­te. Viel­leicht war es Absicht gewe­sen, dass er sie so lan­ge hin­ge­hal­ten hat­te mit der Durch­schnitt­lich­keit, ja, mit der Wid­rig­keit sei­nes Gesichts. dass er ver­sucht hat­te, sie erst mit Gesprä­chen zu gewin­nen, ehe er die Mas­ke von den Augen nahm. Ich wuss­te nicht, ob ich ihm Unrecht tat mit die­ser Ver­mu­tung, aber es war doch deut­lich, dass er sich der Macht die­ser Augen bewusst war.Denn es war eine Gewalt in die­sen Augen, die in kei­nem Ver­hält­nis stand zu sei­nen durch­schnitt­li­chen Gesprä­chen. Weni­ger war es ihre Far­be, die eigent­lich kei­ne Far­be war. Etwas scharf Umgrenz­tes, Hel­les, Metal­li­sches, silb­rig-grau hät­te man sie am ehes­ten nen­nen kön­nen, aber sie waren nicht durch­wölkt oder umsternt wie Augen gewöhn­lich sind, son­dern eher wie etwas mit der Hand gemach­tes. So stark waren sie nicht, so gewal­tig nicht wie die Augen jener — jener Mario­net­te vom Tage vor­her, aber es waren die Augen der Mario­net­te, nur ein­ge­fügt in eine weni­ger lächer­li­che, weni­ger ärm­li­che, weni­ger sub­al­ter­ne Gestalt.

Die­se Augen schie­nen das Gesicht auf­zu­hel­len, sie mach­ten das Dun­kel der Nar­ben ver­blas­sen und bei­na­he ver­ges­sen. Maria, hat­te ich ges­tern noch gedacht, sei gefeit gegen sol­chen Spuk. Jetzt merk­te ich, dass sie es doch nicht war. Oder viel­leicht war sie auf die­sem Stück­chen Weg, durch die­ses biss­chen Gespräch schon ver­wund­bar gewor­den, weil sie anfing, etwas zu füh­len: war es Mit­leid, war es ein abson­der­li­ches Ent­zü­cken am Häss­li­chen, da das Schö­ne sie so ent­täuscht hat­te? — oder war es, so dach­te ich spä­ter manch­mal, eine Art von Reue und Buße, ein Beweis, den sie gegen sich sel­ber zu füh­ren hat­te, dass ihr nicht am Äuße­ren gele­gen war, dass sie nur Lie­be woll­te und nichts von dem, was Men­schen sonst anzie­hend und lie­bens­wert macht ?

Hat­te sie vor­her im Gespräch doch immer noch einen etwas hoch­mü­ti­gen Ton ange­schla­gen, wie man zu einem Men­schen redet, mit dem man sich nicht auf eine Stu­fe stel­len möch­te, so fing sie jetzt an, von gleich zu gleich mit ihm zu spre­chen. Ich sah mit Schre­cken, wie sie sich geschla­gen gab. Zwar hat­te ich mich schon vor­her ver­geb­lich gefragt, wie ihre Ehe noch zu ret­ten, wie­der her­zu­stel­len sei. Noch nie vor­her hat­te ich mit Bewusst­sein und aus der Nähe eine Ehe aus­ein­an­der­bre­chen sehen. Trotz­dem sah ich ein, dass man die­se ohne Lüge und Unauf­rich­tig­keit nicht auf­recht­erhal­ten konn­te, wenn der Mann nicht bereit wäre, sein Leben neu und ganz anders anzufangen.

Das war das eine, damit hat­te ich mich zögernd und wider­stre­bend abge­fun­den. Aber etwas ande­res war es, sie schon so unbe­fan­gen und fast freund­schaft­lich mit dem Pocken­nar­bi­gen reden zu hören, zu sehen, wie ihr Gesicht sich auf­schloss vor dem for­dern­den, metal­li­schen Blick die­ser Augen. Ich fühl­te mich betei­ligt, ver­ant­wort­lich. Mir war, als müss­te ich Wor­te fin­den, ihn zu belei­di­gen, her­ab­zu­set­zen, bloß­zu­stel­len, den Bann die­ses ent­schlos­se­nen Bli­ckes zu bre­chen. Aber ich fand die Wor­te nicht. So saß ich fast stumm mit am Tisch.

Nach dem Essen gin­gen wir quer durch den Wald zum Was­ser, wir erwar­te­ten, die Mol­dau wie­der­zu­fin­den, das Bekann­te im Unbe­kann­tem, den Strom, der auch die Stadt durch­floss. Aber als die Bäu­me sich lich­te­ten, sahen wir da ein ganz frem­des Gebirgs­was­ser über die Stei­ne sprin­gen, glas­klar bis auf den fla­chen Grund. In schnel­len silb­ri­gen Wir­beln dreh­te es sich am Ufer hin, sprüh­te trot­zig auf, wo Fel­sen ihm im Wege stan­den, plät­scher­te und flüs­ter­te wei­ter über das Gestein, vol­ler Eile, vol­ler Eile, fort­zu­kom­men aus den dunk­len Wäl­dern. So sind Kin­der, denen es mit dem Her­an­wach­sen nicht schnell genug gehen kann.

Ent­zückt hol­te Maria ihre Zei­chen­map­pe her­aus. Zum Malen waren wir aller­dings an den rich­ti­gen Fleck gekom­men: fluss­auf­wärts neig­ten sich die Berg­hän­ge, mit dunk­len Tan­nen bestan­den, fei­er­lich und wie alt­klug hin­un­ter zu dem über­mü­ti­gen Gewäs­ser, das unbe­sorgt zwi­schen ihnen hin­toll­te, sozu­sa­gen, ohne Mah­nung oder Rat von ihnen anzu­neh­men. Fluss­ab­wärts rag­ten Fel­sen­wän­de steil vom Ufer auf bis in den Him­mel. Her­risch stell­ten sie sich dem jun­gen Fluss in den Weg, gebie­te­risch dräng­ten sie ihn zur Sei­te, dass er nichts ande­res tun konn­te, als wider­wil­lig sich fügen und den Umweg, der ihm auf­ge­zwun­gen war, mit schein­bar scherz­haf­tem Anlauf einzuschlagen.

Maria hat­te schnell den rich­ti­gen Platz zum Malen gefun­den und stri­chel­te stumm vor sich hin. Frit­sche hat­te sich eine Ziga­ret­te ange­zün­det und ging auf und ab. Ich nahm mir den Zet­tel mit mei­nen Gedich­ten vor.

Ich las noch ein­mal die ers­te Strophe.

Schon kehrt der Saft aus jener Allgemeinheit,
die dun­kel in den Wur­zeln sich erneut,
zurück ans Licht und speist die grü­ne Reinheit,
die unter Rin­den noch die Win­de scheut.”

Plötz­lich sah ich nicht mehr die Ein­zel­hei­ten, das Gewun­de­ne des Sat­zes, die ver­schwom­me­nen Wor­te. Ich sah das Gan­ze und fühl­te die Wahr­heit dar­in. Denn rund um mich her war es ja, har­zig duf­tend und hel­ler brach es aus den Enden der Tan­nen­zwei­ge, an den Büschen run­de­te sich’s und sprang auf, gespeist aus der Tie­fe her, gespeist von Gischt, der aus dem Schäu­men des Flus­ses hoch­stieg. Ich merk­te, dass ich es hier nicht zer­le­gen, nicht dar­an her­um­re­den konn­te wie zu Hau­se am Tisch.

Ich hüte­te mich frei­lich, das Blatt weg­zu­ste­cken, aber ich ließ es sin­ken und mei­ne Augen fluss­ab­wärts wan­dern, hin­über und hin­auf zu den stei­len, schein­bar unzu­gäng­li­chen Fel­sen­wän­den. Da staun­te ich, auch an ihnen Leben zu ent­de­cken: nicht nur grü­nen­des Busch­werk und Bäu­me, die auf Vor­sprün­gen sich ange­sie­delt hat­ten, son­dern auch zwei bun­te Punk­te, die durchs Fel­sen­grau auf­wärts stie­gen und schließ­lich in einem hell-bräun­li­chen Fleck ver­schwan­den, der sich als ein Wochen­end­häus­chen ent­pupp­te, höl­zer­nes Refu­gi­um in schwin­deln­der Höhe über dem Wasser.

Wie man sei­ne Bestand­tei­le dort hin­auf­ge­bracht, wie man es hat­te fest­wur­zeln und auf­bau­en kön­nen, war aus sol­cher Fer­ne unbe­greif­lich. Aber es stand dort oben, Men­schen gin­gen dar­in aus und ein und waren, so muss­te man wohl anneh­men, glück­lich dar­in. Denn nie hat­te ich ein Domi­zil so hoch und so frei lie­gen sehen, so offen allen Bli­cken, ver­bun­den mit der Welt und doch so in Einsamkeit.Ich wies Maria drauf hin, sie hat­te es noch nicht bemerkt, und Frit­sche, dem offen­bar dran lag, mich freund­lich zu stim­men, da er mei­nen gehei­men Wider­stand fühl­te, mach­te den Vor­schlag, das Gan­ze doch ein­mal von nahem zu besehen.

Aber dazu reich­te die Zeit nicht. Das Schnel­len­boot, das uns zum Damp­fer zurück­brin­gen soll­te, lag schon am Ufer ver­täut, ein gro­bes, wun­der­li­chen Fahr­zeug, ein Floß eigent­lich, aus geho­bel­ten Baum­stäm­men zusam­men­ge­fügt und mit Bän­ken bestückt, mehr war es nicht. Woan­ders wäre es einem als Zumu­tung erschie­nen, ein sol­ches Gefährt zu bestei­gen, ohne alle Siche­rung, die wir so über­reich­lich gewohnt sind. Aber in die­sen Wald schien es zu gehö­ren, ganz offen­bar war es hier an Ort und Stel­le zusam­men­ge­schla­gen, ver­traut und ver­wandt mit dem Was­ser, das es befah­ren soll­te, und inso­fern auch wie­der Ver­trau­en weckend.

Der Fähr­mann, ein Alter aus dem Wal­de mit brei­tem rot­brau­nen Bart und in gro­bem Zeug, hock­te auf einem Baum­stamm in der Nähe und paff­te an sei­ner Pfei­fe, deren Geruch sich wür­zig misch­te mit dem Duft von Was­ser und Wald. Auch der Tabak moch­te nicht von weit­her sein.

All­mäh­lich sam­mel­te sich an dem stei­ner­nen Johan­nes­bild, das die­sem Stück des Strom­laufs den Namen gege­ben hat­te — St. Johan­nis-Strom­schnel­len nann­te man sie — eine klei­ne Grup­pe von War­ten­den, und wir bestie­gen end­lich alle das schwan­ken­de Gefährt. Es war eine son­der­ba­re Fahrt, so schwer und ruhig schiff­te das Floß über das wil­de Gewäs­ser, man hät­te es nicht mei­nen sollen.

Als wir die Fels­wand in wei­tem Bogen umfuh­ren, tön­te von hoch oben eine Mäd­chen­stim­me. Sie sang ein Lied, dun­kel klang es von der Höhe her, vol­ler Trau­rig­keit. Wir alle wand­ten uns nach oben: dort stand sie neben dem Häus­chen, eine win­zi­ge rote Figur, gelehnt an ein Gelän­der, wie ein Zwirns­fäd­chen so dünn, und wink­te zu uns herunter.

Ach, sieh da, die Lore­ley” bemerk­te Frit­sche spöt­tisch, aber wir wink­ten zurück, wie es alle taten. Die auf dem Boot stimm­ten mit ein. Einer, der eine Lau­te um die Schul­ter trug, griff in die Sai­ten. Aus den Wäl­dern und von den Fel­sen her kam Ant­wort und Echo. Viel­stim­mig hall­te es wider in dem engen Fel­sen­tal. Auch der Fluss wirk­te mit an dem Gewe­be von Tönen, und wie uns die Wel­len über­hol­ten in ihrem eili­gen Lauf, schie­nen sie es mit sich tal­wärts zu neh­men, hin­aus in die Ebene.

Maria war schweig­sam gewor­den, als hät­ten all die Frem­den, uns und ein­an­der Frem­den, sich zusam­men­ge­tan, für sie die­ses Lied zu sin­gen, als soll­te es sie war­nen, beschüt­zen, zurück­hal­ten. Ich merk­te es deut­lich: unter all den frem­den Men­schen, die etwas mit­ein­an­der gemein­sam hat­ten, und auch mit uns gemein­sam, obwohl wir die Wor­te ihres Lie­des nicht ver­stan­den, rück­te sie ab von dem Pocken­nar­bi­gen, der an ihrer Sei­te saß. Wie eine Erin­ne­rung moch­te es ihr auf­stei­gen aus Was­ser und Gesang. Aber es war zu spät.

Frit­sche ver­ab­schie­de­te sich am Mold­au­kai, wo wir uns am Mor­gen begeg­net waren. Die bei­den tra­fen auch kei­ne Ver­ab­re­dung. Ich war froh dar­über. Trotz­dem war etwas anders gewor­den, als wir die Stu­fen wie­der hin­auf­stie­gen, über die wir am Mor­gen hin­un­ter­ge­stie­gen waren. Es dun­kel­te, und die Blü­ten duf­te­ten stär­ker als am Morgen.Es war wär­mer hier in der Stadt, als es oben zwi­schen Wald, Was­ser und Fel­sen gewe­sen war. Eine betö­ren­de, durch­drin­gen­de Süße war in der Luft, ein Anspruch, eine For­de­rung, ein Ver­lan­gen, so ein­dring­lich und unüber­hör­bar, dass man sich nicht davor ver­schlie­ßen konnte.

Es mach­te mir Sor­ge, nicht für mich, son­dern für Maria, der es dop­pelt schwer sein muss­te, die­sem Ansturm von Früh­ling stand­zu­hal­ten. Schwei­gend stie­gen wir die fla­chen brei­ten Stu­fen hin­auf, die jetzt im grün­li­chen Lich­te der Gas­la­ter­nen ganz ver­wan­delt aus­sa­hen, Kulis­sen für ein Mär­chen­spiel, in dem es nur gute Geis­ter geben konn­te. Die Blü­ten­bäu­me nick­ten ver­trau­lich zu bei­den Sei­ten der Stie­ge wie gute Feen, die im Ein­ver­ständ­nis mit­ein­an­der sind. Unse­re Schat­ten husch­ten geschäf­tig vor uns her und hin­ter uns nach, wie wir an den Later­nen vor­bei­ka­men, als gäbe es hier und da noch etwas zu ord­nen und zurecht­zu­stel­len. Hoch über uns am Him­mel glänz­ten die Ers­ten Ster­ne auf. Das Spiel konn­te begin­nen. Aber wel­ches Spiel?

Bit­te, Maria, ver­trau­en Sie ihm nicht”, sag­te ich mit­ten hin­ein in das hoff­nungs­vol­le Schwei­gen der Nacht. Mei­ne Stim­me klang sprö­de, ich hat­te mich über­win­den müs­sen, es zu sagen, und als es da stand in der Stil­le, erschrak ich davor, denn sicher wür­de sie zor­nig sein, dass ich mir schon wie­der anmaß­te, mich einzumischen.

Und was ich gesagt hat­te, hieß ja „Lie­ben Sie ihn nicht!”, denn wie kann Lie­be sein, wo kein Ver­trau­en ist? Ich dach­te an die Lei­den­schaft nicht, die auf man­ches ver­zich­ten kann, ja, auf man­ches ver­zich­ten muss, auch auf Ver­trau­en, wenn es nötig ist.

Aber Maria war nicht zor­nig. Sie lach­te nur.

Aus­ge­rech­net Sie sagen mir das? Und ich habe Sie immer für so ver­trau­ens­se­lig gehal­ten wie ein Kind. Ich dach­te, Sie glau­ben von allen und jedem nur das Beste.”

Ich staun­te. Etwas Wah­res war in dem, was sie sag­te, und doch war ich mir des­sen nie bewusst gewe­sen. So anders erscheint man also den andern als sich selber.

Viel­leicht stimmt das, was Sie sagen”, gab ich zu, „aber viel­leicht nur, weil ich dem Bösen nie begeg­net bin.”

Wie Sie das sagen — ‚dem Bösen’ — als wäre er der Böse in Per­son!” Merk­wür­dig, sie sprach nicht empört, nicht beleidigt.

Hät­te sie das nicht sein müs­sen, wenn sie auch nur einen Fun­ken von Nei­gung für ihn fühlte?

Ich mein­te nur, ‚das Böse’, nicht ‚der Böse’ ” ver­such­te ich richtigzustellen.

Ach, das macht Ihre Mei­nung auch nicht viel schmei­chel­haf­ter”, lach­te Maria — sie schien dar­auf aus, das Gan­ze ins Lächer­li­che zu zie­hen. Es hat­te wirk­lich nicht den Anschein, als sei sie so von Her­zen betei­ligt, wie ich gefürch­tet hat­te. „Übri­gens macht es Ihrem guten Her­zen nicht viel Ehre”, fuhr sie fort, „hin­ter­rücks über einen Men­schen her­zu­fal­len, den die Natur — oder das Schick­sal — so übel behan­delt hat, dass man eigent­lich Mit­leid mit ihm haben müss­te. Sagen Sie nicht, er ist bestraft oder gezeich­net — er hat­te die Krank­heit schon als Kind.”

Auch dar­über hat­ten sie also gespro­chen — wie bekannt muss man schon mit­ein­an­der sein, um ein so gehei­mes, wenn auch so offen­sicht­li­ches The­ma zu erör­tern! Pflegt nicht ein Mensch sei­ne Gebre­chen und äuße­ren Män­gel zu ver­leug­nen, als wären sie nicht da, sie tot­zu­schwei­gen in der heim­li­chen Hoff­nung, der ande­re könn­te sie viel­leicht doch übersehen?

Aber viel­leicht ist es gera­de die Krank­heit und die — die Fol­gen der Krank­heit, die ihn böse gemacht haben?” Ich war froh, dass Mari­as ruhi­ge Art es mir mög­lich mach­te, die­sen Ein­wand aus­zu­spre­chen. Sie schwieg eine Wei­le, als wäre sie noch nicht auf die­sen Gedan­ken ver­fal­len, als erwä­ge sie sei­ne Wahr­schein­lich­keit. Aber sie schien sie schließ­lich doch abzutun.

Ich glau­be, Sie sind kei­ne gro­ße Psy­cho­lo­gin”, sag­te sie und schüt­tel­te den Kopf. „Ein Kind kann doch sehen, dass er ein unglück­li­cher Mensch ist, dass er unglück­lich sein muss in sei­ner Haut, ja, im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes. Und unglück­li­che Men­schen sind nicht böse.”

Nicht?” frag­te ich. Ich war mir sel­ber nicht sicher — unglück­lich sein, heisst lei­den, und lei­den schien sich aller­dings nicht zu ver­tra­gen mit täti­ger Bos­heit. Übri­gens war es nicht Bos­heit, deren ich ihn ver­däch­tig­te. Es war wirk­lich „das Böse” schlecht­hin. Ich konn­te mir bei­lei­be nichts dar­un­ter vor­stel­len, es war nur ein ganz unge­nau­es Gefühl, alles konn­te dar­un­ter fal­len. Aber Bos­heit war von den Din­gen, die das Böse umschloß, noch fast das harmloseste.

Konn­te man unglück­lich sein und böse ?

Aber er hat nicht die Augen, die unglück­li­che Men­schen haben”, sag­te ich schließlich.

Maria lach­te wie­der, „Man muss sich ja vor Ihnen hüten”, sag­te sie, wie man das zu einem Kind sagt, von dem man sich bei einer Kraft­pro­be im Spaß geschla­gen gibt. „Wie genau Sie alles sehen! Ich möch­te nicht wis­sen, wie Sie mich sehen.”

Danach kön­nen Sie ruhig fra­gen”, erwi­der­te ich. „Bei Ihnen bin ich im ent­ge­gen­ge­setz­ten Sin­ne par­tei­isch. Wenn ich Sie nicht gern hät­te, wür­de mir nichts dran lie­gen, Sie zu warnen.”

Sie schwieg eine Wei­le nach­denk­lich, als müss­te sie unter die­sen Gesichts­punkt alles noch ein­mal über­den­ken. Wir waren zu Hau­se ange­langt und stie­gen die Trep­pen hin­auf. Als wir vor unse­rer Tür stan­den und ich auf­ge­sperrt hat­te, gab sie mir plötz­lich die Hand. Wir gaben uns nie die Hand. Da wir im sel­ben Zim­mer auf­stan­den und schla­fen gin­gen, wäre es albern gewe­sen, hät­ten wir uns stän­dig die Hand geben wol­len. Jetzt gab sie mir die Hand. Es war wie ein Abschied.

Ich bin Ihnen dank­bar, dass Sie sich soviel Gedan­ken um mich machen”, sag­te sie. „Aber ich glau­be, es lohnt sich nicht.”

Was heißt das? Wie mei­nen Sie das?” frag­te ich und schloss hin­ter mir die Tür.

Mein Leben ist ver­pfuscht. Ich hät­te es für eine gro­ße Sache ein­set­zen kön­nen, aber das woll­te ich nicht. Jetzt ist es bloß, wie wenn man vom sin­ken­den Schiff in ein Ret­tungs­boot steigt. Die Chan­ce, dass man an Land kommt, steht eins zu tausend.”

Sie wer­den ihn also wirk­lich wie­der­se­hen?” frag­te ich. Ihre ruhi­ge Art, das Gan­ze zu bere­den, ihre Unemp­find­lich­keit hat­ten mich hof­fen las­sen, es wäre viel­leicht doch nicht so.

Sie saß auf ihrem Bett und hat­te sich eine Ziga­ret­te ange­zün­det. Jetzt nick­te sie.

Wir haben uns ver­ab­re­det”, sag­te sie. „Sie wuss­ten es nicht, aber Sie haben es gefühlt. Ich mag Ihnen auch nichts vormachen.”

Er hat Angst vor mir, des­halb hat er’s heim­lich getan”, sag­te ich. „Maria — muss es denn die­ser Mann sein? Sie sind doch so jung! Kön­nen Sie nicht erst alles in Ord­nung brin­gen und dann Geduld haben und das Ver­trau­en, dass Sie doch ein­mal Lie­be fin­den werden?”

Sie war auf­ge­stan­den und stand jetzt am Fens­ter. Der Rauch ihrer Ziga­ret­te weh­te an der Schei­be ent­lang, zog sich am Glas hin­aus in die Nacht.

Ver­trau­en — zu wem?” frag­te sie. „Ich weiß, für Sie muss das alles schmut­zig aus­se­hen und unor­dent­lich. Zu Ihnen wür­de es nicht passen.”

Es passt auch zu Ihnen nicht”, sag­te ich und frag­te mich, wie ich das hat­te sagen kön­nen. Aber sie zuck­te nur die Achseln.

Wenn ich zu Gott Ver­trau­en haben könn­te”, erwi­der­te sie „dann könn­te ich viel­leicht auch Geduld haben. Aber ich habe bei­des nicht.”

Dage­gen gab es nichts zu sagen. Ich ging zum Regal, nahm Ser­vi­et­ten und Geschirr und fing an, den Tisch zu decken. Das Dun­kel von ges­tern war aus dem Zim­mer gewi­chen, aber es war nur ein­ge­tauscht gegen ein ande­res. Oder hat­te bei­des mit­ein­an­der zu tun? Ich wuss­te es nicht.

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